Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Junge, wir können die Sache nicht voranbringen, indem wir uns darüber die Nerven strapazieren. Ich bitte dich also inständig, laß uns zu Bett gehen, damit du dafür frisch bist, was immer uns auch morgen erwarten mag.«
Es gelang mir schließlich, meinen Gefährten zu überreden, meinem Rat zu folgen, wenn ich auch aus seiner Aufgeregtheit schlußfolgern konnte, daß es wenig Hoffnung für ihn auf Schlaf gab. Seine Stimmung steckte wirklich an, denn ich selber wälzte mich die halbe Nacht im Bett herum, grübelte über das seltsame Problem und ersann hundert Erklärungen, eine unmöglicher als die andere. Warum war Holmes in Woking geblieben? Warum hatte er Miss Harrison gebeten, den ganzen Tag über in dem Krankenzimmer zu bleiben? Warum hatte er sich gehütet, die Bewohner von Briarbrae wissen zu lassen, daß er in der Nähe bleiben wollte? Ich zermarterte mir das Hirn und fiel schließlich über dem Versuch in Schlaf, eine Erklärung zu finden, die alle diese Fragen beantworten konnte.
Es war sieben Uhr, als ich wach wurde, und ich begab mich sofort in Phelps’ Zimmer. Ich fand meinen Jugendfreund abgehärmt und erschöpft nach einer schlaflosen Nacht. Als erstes fragte er, ob Holmes schon angekommen sei.
»Er wird hier sein zu der Zeit, zu der hier zu sein er versprochen hat, nicht früher und nicht später.«
Und meine Worte erfüllten sich. Kurz nach acht preschte ein Hansom vor die Tür, und unser Freund stieg aus. Vom Fenster aus sahen wir, daß seine rechte Hand bandagiert war, und er wirkte sehr finster und bleich. Er trat ins Haus, doch es dauerte einige Zeit, ehe er nach oben kam.
»Er macht den Eindruck eines geschlagenen Mannes!« rief Phelps. Ich fühlte mich gedrängt, zuzugeben, daß er recht hatte. »Nach allem«, sagte ich dann doch, »liegt der Schlüssel zu der Angelegenheit hier in der Stadt.«
Phelps stöhnte.
»Ich weiß nicht, was inzwischen passiert ist«, sagte er, »aber ich hatte mir soviel von seiner Rückkehr erhofft. Seine Hand war doch gestern bestimmt noch nicht verbunden. Was mag da los gewesen sein?«
»Sie sind verletzt?« fragte ich, als mein Freund im Zimmer stand.
»Ach, das ist nur ein Kratzer, durch meine eigene Ungeschicklichkeit«, antwortete er, indem er uns einen guten Morgen zunickte.
»Ihr Fall, Mr. Phelps, ist gewiß einer der dunkelsten, die mir je untergekommen sind.«
»Ich habe es befürchtet, daß er Ihre Kräfte übersteigt.«
»Er hat mir eine äußerst bemerkenswerte Erfahrung eingetragen.«
»Der Verband deutet auf Abenteuer«, sagte ich. »Möchten Sie uns nicht erzählen, was sich zugetragen hat?«
»Nach dem Frühstück, mein lieber Watson. Bedenken Sie, daß ich heute früh dreißig Meilen lang frische Surrey-Luft geatmet habe. Ich nehme an, es ist noch keine Antwort auf mein Such-Inserat nach dem Kutscher eingetroffen? Gut denn, wir können nicht erwarten, jedesmal Treffer zu landen.«
Der Tisch war schon gedeckt, und ich wollte gerade klingeln, als Mrs. Hudson auch schon den Tee und den Kaffee hereintrug. Ein paar Minuten später brachte sie die Gedecke, und wir setzten uns um den Tisch – Holmes heißhungrig, ich neugierig und Phelps zutiefst niedergeschlagen.
»Mrs. Hudson ist dem Ereignis gerecht geworden«, sagte Holmes, nachdem er den Deckel von einer Schüssel mit Curry-Huhn abgenommen hatte. »Ihre Küche ist zwar ein bißchen eintönig, aber sie macht ein so gutes Frühstück, wie eine Schottin es nur kann. Was essen Sie, Watson?«
»Eier mit Schinken.«
»Ausgezeichnet! Und was nehmen Sie, Mr. Phelps – Geflügel mit Curry, oder Eier? Greifen Sie zu.«
»Danke, ich mag nichts essen«, sagte Phelps.
»Aber nicht doch! Versuchen Sie das Gericht in der Schüssel vor Ihnen.«
»Danke, ich möchte lieber nicht.«
»Auch gut«, sagte Holmes mit mutwilligem Blinzeln. »Ich nehme an, es macht Ihnen nichts aus, mir etwas davon aufzutun.«
Phelps nahm den Deckel ab und stieß einen Schrei aus. Er saß da und starrte und war weiß wie die Schüssel, in die er hineinsah. Drin lag eine blaugraue Papierrolle. Er ergriff sie, verschlang sie mit den Augen und tanzte dann wie verrückt im Zimmer umher, die Rolle an die Brust gepreßt und seiner Freude in kreischendem Lachen freien Lauf lassend. Dann fiel er in einen Sessel, so schwach und ausgepumpt, daß wir ihm Kognak einflößen mußten, damit er nicht die Besinnung verlor.
»Ist ja
Weitere Kostenlose Bücher