Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Zusage nicht zurückziehen, sondern den Chef des bedeutenden Unternehmens in dem Glauben lassen sollten, ein Mr. Hall Pycroft, den er noch nie gesehen hatte, würde am Montag morgen den Dienst in seinem Büro antreten.«
»Mein Gott!« rief unser Klient. »Was bin ich doch für ein blindes Huhn gewesen!«
»Jetzt wissen Sie, was Ihre Handschrift ausmachen mußte. Angenommen, jemand wäre dort aufgetaucht, der eine völlig andere Schrift besaß als die, in der Ihre Bewerbung um die Stellung gehalten war, dann wäre die Sache natürlich aufgeflogen. Aber inzwischen hatte der Schurke Ihre Schrift nachzuahmen gelernt, und so konnte er seiner Sache sicher sein, wenn – wie ich annehme – niemand im Büro Sie jemals gesehen hat.«
»Keine Menschenseele kennt mich da«, stöhnte Hall Pycroft.
»Sehr gut. Natürlich war es von äußerster Wichtigkeit, daß Sie es sich nicht anders überlegten, und gleichfalls, daß Sie davon abgehalten wurden, mit irgend jemandem Berührung zu bekommen, der Ihnen erzählen konnte, daß Ihr Doppelgänger in Mawsons Büro arbeitete. Deshalb gab man Ihnen einen ansehnlichen Vorschuß auf Ihr Gehalt, lockte Sie in die Midlands und verpaßte Ihnen genügend Arbeit, um Sie von der Rückkehr nach London abzuhalten, wo Sie das Spielchen hätten auffliegen lassen können. Soweit ist alles geklärt.«
»Aber warum soll dieser Mann vorgegeben haben, sein eigener Bruder zu sein?«
»Nun, auch das ist klar. An der Sache sind offensichtlich nur zwei Leute beteiligt. Der andere sitzt jetzt als Hall Pycroft im Büro. Dieser hier war derjenige, der Sie engagierte, und ihm war bewußt, daß er, um Ihnen einen Arbeitgeber vorzusetzen, eine dritte Person in die Sache hätte einweihen müssen. Das aber wollte er auf keinen Fall. Also veränderte er sein Äußeres, so gut er konnte, und vertraute darauf, daß Sie die Ähnlichkeit, die Ihnen auffiel, der nahen Verwandtschaft zuschreiben würden. Ohne den glücklichen Zufall, daß Sie die Goldplombe entdeckten, wäre Ihr Verdacht vermutlich nie geweckt worden.«
Hall Pycroft schüttelte die Fäuste.
»Guter Gott!« rief er, »was hat nur der andere Hall Pycroft bei Mawson gemacht, während man mich hier an der Nase herumführte? Was können wir tun, Mr. Holmes? Was soll ich tun, sagen Sie mir das!«
»Wir müssen Mawson telegraphieren.«
»Das Büro wird samstags um zwölf geschlossen.«
»Das macht nichts, es wird doch wohl einen Pförtner oder Ähnliches geben…«
»Ja, ja, sie haben einen ständigen Wächter, wegen der Wertpapiere, die dort deponiert sind. Ich erinnere mich, daß in der City davon geredet wurde.«
»Gut denn, wir werden telegraphieren und uns erkundigen, ob alles in Ordnung ist und ob ein Schreiber Ihres Namens dort arbeitet. Das wäre also geklärt, aber nicht klar ist, warum der eine der Schurken kurz nach unserem Kommen den Raum verlassen und sich aufgehängt hat.«
»Die Zeitung!« krächzte eine Stimme hinter uns.
Der Mann saß jetzt, bleich und gespenstisch, aber schon wieder mit Augen, in die Vernunft zurückkehrte, und rieb sich nervös die breite, rote Strieme, die noch immer an seinem Hals zu sehen war.
»Die Zeitung! Natürlich!« schrie Holmes sofort sehr aufgeregt. »Ich war ein Idiot! Ich habe so sehr an einen Zusammenhang mit unserem Besuch gedacht, daß mir die Zeitung nicht eine Sekunde in den Sinn gekommen ist. Selbstverständlich liegt dort die Erklärung.« Er glättete die Zeitung auf dem Tisch, und ein Triumphschrei löste sich von seinen Lippen.
»Schauen Sie sich das an, Watson!« rief er. »Es ist eine Londoner Zeitung, eine Frühausgabe des ›Evening Standard‹. Hier steht, was wir brauchen. Sehen Sie die Schlagzeilen: ›Verbrechen in der City. Mord bei Mawson & Williams. Raubversuch riesigen Ausmaßes. Festnahme des Verbrechers.‹
Nehmen Sie, Watson, wir sind begierig, die Nachricht zu hören; seien Sie so freundlich, sie uns vorzulesen.«
Nach der Placierung in der Zeitung schien die Begebenheit das Wichtigste zu sein, was sich in London ereignet hatte. Die Meldung hatte folgenden Wortlaut:
›Ein rücksichtsloser Raubversuch, der mit dem Tod eines Mannes und mit der Gefangennahme des Verbrechers seinen Höhepunkt fand, ereignete sich heute nachmittag in der City. Seit einiger Zeit liegen im Haus Mawson & Williams, dem bekannten Finanzunternehmen, Wertpapiere, deren Gesamtwert eine Million Pfund Sterling
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