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Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2

Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2

Titel: Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
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hassen. Ich schlug deshalb den nächsten Weg ein und suchte Miss Morrison auf. Ich erklärte ihr, ich sei ganz sicher, sie hielte mit Tatsachen hinterm Berg, und versicherte ihr, daß ihre Freundin sich möglicherweise in einem Mordprozeß auf der Anklagebank wiederfinden werde, wenn wir den Fall nicht klären.
      Miss Morrison ist ein kleines, zartes, mädchenhaftes Geschöpf mit ängstlich blickenden Augen und blondem Haar; jedoch konnte ich nicht feststellen, daß Schlauheit und gesunder Menschenverstand ihr abgingen. Nachdem ich zu ihr gesprochen hatte, saß sie eine Weile nachdenklich da, wandte sich mir dann entschlossen zu und gab eine bemerkenswerte Erklärung ab, die ich um Ihretwillen in gedrängter Kürze wiedergeben will.
      ›Ich habe meiner Freundin versprochen, in der Angelegenheit nichts zu sagen, und ein Versprechen ist ein Versprechen‹, erklärte sie. ›Aber wenn ich ihr helfen kann, eine so schwerwiegende Anklage abzuwenden, da der Mund der Ärmsten durch Krankheit verschlossen ist, glaube ich, von meinem Versprechen entbunden zu sein.
      Ich werde Ihnen genau erzählen, was sich am Montagabend ereignete.
      Wir befanden uns gegen Viertel vor neun auf dem Heimweg von der Watt-Street-Mission. Wir mußten durch die Hudson Street gehen, eine sehr stille Nebenstraße. Da gibt es nur eine Laterne, auf der linken Seite, und als wir uns dieser Laterne näherten, sah ich einen Mann auf uns zu kommen, tief gebeugt, und er trug so etwas wie eine Kiste auf der Schulter. Er schien körperlich entstellt, denn er hielt den Kopf gesenkt und ging mit krummen Knien. Als wir an ihm vorübergingen, hob er das Gesicht, um uns im Lichtkreis, den die Laterne warf, anzusehen, und während er das tat, blieb er plötzlich stehen und rief mit schrecklicher Stimme: ‚Mein Gott! Nancy!’
      Mrs. Barclay wurde bleich wie der Tod und wäre zu Boden gefallen, hätte das schrecklich anzusehende Geschöpf sie nicht aufgefangen. Ich wollte schon nach der Polizei rufen, aber zu meiner Überraschung sprach sie ganz höflich mit dem Burschen.
      ‚Ich dachte, du bist schon seit dreißig Jahren tot’, sagte sie mit zitternder Stimme.
      ‚Dasselbe dachte ich auch’, sagte er, und der Ton, in dem er das sagte, war angsterregend. Er hatte ein sehr dunkles, furchteinflößendes Gesicht, und das Flackern in seinen Augen sehe ich noch in meinen Träumen. Sein Haar und der Bakkenbart waren mit Grau durchzogen, und sein Gesicht war faltig und von Runzeln gekerbt wie ein verschrumpelter Apfel.
      ‚Gehen Sie ein Stück voraus, meine Liebe’, sagte Mrs. Barclay. ‚Ich muß etwas mit dem Mann bereden. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen!’ Sie versuchte energisch zu sprechen, war aber noch totenblaß und brachte die Wörter kaum über die zitternden Lippen.
      Ich tat, worum sie mich bat, und die beiden sprachen einige Minuten miteinander. Dann kam sie mit blitzenden Augen auf mich zu, und ich sah, wie der verkrüppelte Kerl am Laternenpfahl stand und die Fäuste in der Luft schüttelte, als sei er verrückt vor Wut. Sie sprach kein Wort, bis wir an meine Tür gekommen waren. Hier nahm sie mich bei der Hand und bat mich, niemandem zu sagen, was sich zugetragen hatte. ‚Es war ein alter Bekannter, dem das Leben übel mitgespielt hat’, sagte sie. Als ich ihr versprach, nichts laut werden zu lassen, küßte sie mich, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Jetzt habe ich Ihnen die ganze Wahrheit gesagt; als ich sie vor der Polizei verschwieg, wußte ich noch nicht, in welcher Gefahr meine liebe Freundin schwebt. Ich weiß, es gereicht ihr nur zum Vorteil, wenn alles bekannt wird.‹
      Da war nun ihre Erklärung, Watson, die mir wie ein Licht in dunkler Nacht schien, Sie können es sich wohl vorstellen. Was zuvor zusammenhanglos war, fing an, den richtigen Platz einzunehmen, und mir ging der Schatten einer Ahnung auf, wie die Geschehnisse sich zugetragen hatten. Als nächstes mußte ich natürlich herausfinden, wer der Mann war, der solch einen bemerkenswerten Eindruck auf Mrs. Barclay gemacht hatte.
      Wenn er sich noch in Aldershot aufhielt, konnte das keine schwierige Aufgabe sein. Es gibt dort nicht allzu viele Zivilisten, und ein verkrüppelter Mann mußte auffallen. Einen Tag verbrachte ich auf der Suche, und am Abend – gerade heute abend, Watson – hatte ich ihn gefunden. Er heißt Henry Wood und lebt zur Untermiete in der Straße, in der die Damen ihn getroffen haben. Er wohnt erst seit fünf

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