Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Tagen dort. Ich gab mich als Agent der Einwohnermeldebehörde aus und hatte ein äußerst aufschlußreiches Gespräch mit seiner Wirtin. Der Mann ist Gaukler von Beruf, zieht am Abend durch die Kantinen und gibt Vorstellungen zum besten. In seiner Kiste trägt er eine Kreatur mit sich herum, die bei der Vermieterin ziemliche Bestürzung ausgelöst hat, weil ihr so ein Tier noch nie unter die Augen gekommen war. Wie sie berichtete, braucht er es für einige seiner Tricks. Soviel konnte mir die Frau verraten; sie sagte auch, daß es ein Wunder sei, daß der Mann noch lebe, verkrüppelt, wie er ist, und daß er manchmal eine seltsame Sprache spräche, und während der letzten beiden Nächte habe sie ihn in seinem Schlafzimmer stöhnen und weinen hören. Was das Geld angehe, so sei er in Ordnung, aber in der Summe, die er als Vorauszahlung geleistet habe, sei ein wahrscheinlich falscher Florin. Sie zeigte mir die Münze, Watson: es war eine indische Rupie.
So, lieber Freund, jetzt wissen Sie genau, wie wir dastehen und warum ich Sie brauche. Es ist völlig klar, daß der Mann den Damen von fern folgte, nachdem sie sich von ihm getrennt hatten, daß er den Streit zwischen Mann und Frau durch das Fenster beobachtet hat, daß er ins Zimmer stürzte und daß dabei das Geschöpf, das er in der Kiste bei sich trug, freikam. Soviel also ist ganz gewiß. Aber er ist außer Mrs. Barclay der einzige Mensch auf der Welt, der uns genau erzählen kann, was in dem Zimmer vor sich ging.«
»Und Sie wollen ihn fragen?«
»Auf jeden Fall – aber in Gegenwart eines Zeugen.«
»Bin ich der Zeuge?«
»Wenn Sie so gut sein würden. Kann er die Sache aufklären – dann ist es gut. Sperrt er sich, bleibt uns nur, einen Haftbefehl zu erwirken.«
»Aber wie wollen Sie wissen, ob er noch da ist, wenn wir hinkommen?«
»Sie können sicher sein, daß ich Vorsichtsmaßnahmen ergriffen habe. Einer meiner Jungs aus der Baker Street beobachtet ihn, und er wird wie eine Klette an ihm hängenbleiben, wohin er auch geht. Wir werden ihn morgen in der Hudson Street antreffen, und ich wäre selber ein Verbrecher, wenn ich Sie noch länger vom Schlafen abhielte.«
Es war am nächsten Mittag, als wir am Schauplatz der Tragödie eintrafen. Mein Gefährte schlug sofort den Weg nach der Hudson Street ein. Trotz seiner Fähigkeit, Gefühle zu verbergen, bemerkte ich sofort, daß Holmes sich im Zustand unterdrückter Erregung befand, während in mir das halb sportliche, halb intellektuelle Vergnügen prikkelte, das ich immer wieder verspürte, wenn ich an seinen Untersuchungen teilnahm.
»Hier ist es«, sagte er, als er in die kurze, von schlichten, zweistöckigen Ziegelsteinhäusern gesäumte Nebenstraße einbog. »Äh, und da kommt Simpson mit seinem Bericht.«
»Er ist drin, Mr. Holmes«, rief ein kleiner Straßenjunge, der auf uns zulief.
»Gut, Simpson!« sagte Holmes und streichelte ihm über den Kopf. »Kommen Sie, Watson. Dies ist das Haus.« Er schickte den Jungen mit seiner Karte hinein und mit der Nachricht, er käme in einer wichtigen Angelegenheit, und kurz darauf standen wir vor dem Mann, den wir sehen wollten. Trotz des warmen Wetters hockte er dicht beim Feuer, und in dem kleinen Zimmer war es heiß wie in einem Backofen. Der Mann saß ganz verdreht und zusammengesunken auf seinem Stuhl und bot ein unbeschreibliches Bild von Verunstaltung, aber das Gesicht, das er uns zukehrte, mußte einmal bemerkenswert schön gewesen sein, obwohl es jetzt verfallen und dunkel aussah. Mißtrauisch blickte er uns aus gelblichen Augen an, die auf ein Gallenleiden schließen ließen, und ohne ein Wort zu sagen oder sich zu erheben, wies er mit der Hand auf zwei Stühle. ,
»Mr. Henry Wood, bis vor kurzem in Indien, wenn ich nicht irre«, sagte Holmes freundlich. »Ich bin wegen der Sache um Colonel Barclays Tod gekommen.«
»Was sollte ich schon darüber wissen?«
»Gerade das möchte ich herausbekommen. Ich nehme nämlich an, daß Mrs. Barclay, Ihre alte Freundin, wahrscheinlich wegen Mordes angeklagt wird, wenn sich die Angelegenheit nicht aufklärt.«
Der Mann zuckte heftig zusammen.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, rief er, »noch woher Sie Kenntnis haben von dem, was Sie mir erzählen. Schwören Sie, daß Sie die Wahrheit sagen?«
»Nun, man wartet nur darauf, daß sie wieder zu Sinnen kommt, um sie zu verhaften.«
»Mein Gott! Sind Sie von der
Weitere Kostenlose Bücher