Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
bereits meine ersten Beobachtungen ließen mich erkennen, daß sich in Wahrheit Außerordentlicheres bot, als es auf den ersten Blick erschien.
Ehe ich das Zimmer untersuchte, verhörte ich die Dienerschaft; aber dabei kam kaum mehr heraus, als ich schon berichtet habe. An ein interessantes Detail konnte sich das Dienstmädchen, Jane Stewart, erinnern. Ich habe schon erzählt, daß sie, als sie den Streit hörte, zur Küche hinunterging und mit den anderen beiden Angestellten zurückkehrte. Sie sagte beim ersten Mal, als sie allein vor der Tür stand, seien die Stimmen ihres Herrn und ihrer Herrin so leise gewesen, daß sie eher aus dem Klang der Worte als aus deren Inhalt geschlossen habe, dort sei ein Streit im Gange. Als ich weiter in sie drang, erinnerte sie sich, daß die Dame den Namen David zweimal genannt habe. Der Punkt ist von äußerster Wichtigkeit, da er uns zum Grund der plötzlichen Auseinandersetzung führt. Sie wissen doch noch: Der Colonel hieß James mit Vornamen.
Eines beeindruckte die Dienerschaft und besonders auch die Polizei. Es war das verzerrte Gesicht des Colonels. Auf ihm lag, wie sie erklärten, der fürchterlichste Ausdruck, gemischt aus Angst und Schrecken, den ein menschliches Gesicht anzunehmen vermag. Mehr als einem wurde schwindlig, so schrecklich war der Anblick. Es ist ganz sicher, daß er sein Schicksal kommen sah, und das hat in ihm das äußerste Entsetzen ausgelöst. Der Umstand paßt natürlich allzugut in die Theorie der Polizei, der Colonel habe gesehen, wie seine Frau einen mörderischen Angriff auf ihn unternahm. Daß sich die Wunde am Hinterkopf befindet, bedeutet keinen entscheidenden Einwand gegen die Theorie, weil er sich vielleicht abgewandt hatte, um dem Hieb auszuweichen. Die Dame selbst konnte nicht aussagen, da ein Nervenfieber sie befallen hat.
Von der Polizei hörte ich, daß Miss Morrison, die, wie Sie sich erinnern werden, an jenem Abend mit Mrs. Barclay zu der Versammlung gegangen war, erklärte, sie habe keine Ahnung, was die schlechte Laune ihrer Begleiterin verursacht haben könnte.
Nachdem ich all das erfahren hatte, rauchte ich einige Pfeifen, Watson, und versuchte, die entscheidenden Tatsachen von den nur nebensächlichen zu trennen. Fraglos war für mich das Verschwinden des Schlüssels der auffallendste und anregendste Punkt überhaupt. Das sorgfältigste Absuchen des Zimmers hatte ihn nicht zutage fördern können. Also mußte ihn jemand an sich genommen haben. Aber weder der Colonel noch seine Frau konnten das gewesen sein. Das war völlig klar. Deshalb mußte eine dritte Person das Zim mer betreten haben. Und diese dritte Person hatte nur durch das Fenster kommen können. Ich stellte mir vor, daß eine genaue Untersuchung des Zimmers und des Rasens einige Spuren der geheimnisvollen Person ans Licht bringen könnte. Sie kennen meine Methoden, Watson. Ich wandte sie alle an, ließ keine aus. Und schließlich stieß ich auf Spuren, aber auf Spuren, die ich nicht erwartet hatte. Ein Mann war im Zimmer gewesen, und er hatte von der Chaussee her den Rasen überquert. Fünf ganz deutliche Fußabdrücke konnte ich sicherstellen – einen auf der Landstraße, dort, wo der Mann die niedrige Mauer überstiegen hatte, zwei auf dem Rasen und zwei sehr schwache auf den gestrichenen Dielen nahe dem französischen Fenster, durch das er gekommen war. Anscheinend hatte er den Rasen eilig überquert, denn die Abdrücke des Vorderfußes waren viel tiefer als die der Absätze. Aber nicht der Mann war für mich die Überraschung, sondern sein Begleiter.«
»Sein Begleiter!«
Holmes holte ein großes Blatt Kohlepapier aus der Tasche und entfaltete es vorsichtig über dem Knie.
»Was halten Sie davon?« fragte er.
Das Papier war bedeckt mit Spuren von Fußabdrücken eines kleinen Tiers. Fünf Zehen zeichneten sich klarumrissen ab, dazu andeutungsweise lange Nägel, und der ganze Abdruck mochte jeweils so groß wie ein Dessertlöffel sein.
»Das war ein Hund«, sagte ich.
»Haben Sie jemals von einem Hund gehört, der die Vorhänge hinaufklettert? Ich habe sichere Beweise dafür, daß dieses Tier das getan hat.«
»Vielleicht ein Affe?«
»Aber das sind nicht die Abdrücke eines Affen.«
»Was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Weder ein Hund noch ein Affe, noch eine Katze, noch überhaupt ein Tier, das uns vertraut ist. Ich habe versucht, es nach den Maßen, die es hinterlassen hat, zu
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