Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Polizei?«
»Nein.«
»Was haben Sie denn dann mit der Sache zu tun?«
»Es ist jedermanns Sache, zu helfen, daß Recht geschieht.«
»Ich kann Ihnen mein Ehrenwort darauf geben, daß sie unschuldig ist.«
»Und Sie sind schuldig?«
»Nein.«
»Wer sonst hat Colonel Barclay umgebracht?«
»Die Vorsehung. Aber glauben Sie mir, wenn ich ihm den Schädel eingeschlagen hätte – und danach war mir zumut –, hätte er von meiner Hand nur bekommen, was er verdiente. Hätte ihn sein eigenes schuldbeladenes Gewissen nicht niedergestreckt, so wäre sein Blut wahrscheinlich über mich gekommen. Soll ich Ihnen die Ge schichte erzählen? Gut, ich weiß nicht, warum ich es nicht tun sollte, denn ich habe keinen Grund, mich ihrer zu schämen.
Es war so, Sir. Wie Sie mich jetzt sehen, habe ich einen Rücken wie ein Kamel und eine völlig verformte Brust; aber es gab eine Zeit, da war Corporal Henry Wood der schneidigste Mann bei den 117er Infanteristen. Damals lagen wir in Indien im Winterquartier, in einem Ort, den wir mal Bhurtee nennen wollen. Barclay, der gestern gestorben ist, war Sergeant in derselben Kompanie, in der auch ich diente, und der Beau des Regiments – jawohl, und das schönste Mädchen, das je hier auf Erden geatmet hat, war Nancy Devoy, die Tochter des Fahnen-Sergeanten. Es gab zwei Männer, die sie liebten, und einen Mann, den sie liebte, und Sie werden lachen, wenn Sie die halbe Portion hier beim Feuer hocken sehen und sagen hören, daß sie mich wegen meines guten Aussehens liebte.
Nun, obwohl ich ihr Herz besaß, bestand ihr Vater darauf, daß sie Barclay heiratete. Ich war ein unbändiger, rücksichtsloser Bursche, aber er hatte eine Ausbildung genossen und war bereits für das Degengehenk vorgesehen. Doch das Mädchen hielt treu zu mir, und es schien, als könnte ich sie bekommen, als der Sepoy-Aufstand ausbrach und das Land in eine Hölle verwandelte.
Wir wurden in Bhurtee eingeschlossen – unser Regiment, die Hälfte einer Artillerie-Einheit, eine Sikhs-Kompanie und viele Zivilisten und Frauen. Zehntausend Rebellen hatten uns umzingelt, und sie waren so scharf wie eine Meute Terrier vor einem Rattenkäfig. Um die zweite Woche ging unser Wasser zu Ende, und es stellte sich die Frage, ob wir mit General Neills Truppen, die nordwärts marschierten, Verbindung herstellen konnten. Das war unsere einzige Chance, denn bei all den Frauen und Kindern durften wir nicht auf einen Ausfall hoffen. Ich meldete mich freiwillig, mich aus der Stadt zu schleichen und General Neill von der Gefahr, in der wir uns befanden, zu berichten. Mein Angebot wurde akzeptiert, und ich sprach das Unternehmen mit Sergeant Barclay durch, von dem es hieß, er kenne die Gegend besser als irgend jemand anderer. Er arbeitete eine Route aus, über die ich durch die Linien der Rebellen gelangen könnte. Am selben Abend um zehn Uhr brach ich auf. Tausend Leben waren zu retten, aber ich dachte nur an das eine, als ich mich über die Mauer fallen ließ.
Mein Weg führte durch einen ausgetrockneten Flußlauf, in dem ich, so hatten wir gehofft, vor den feindlichen Wachposten verborgen wäre. Aber als ich um eine Biegung kroch, stieß ich auf sechs Männer, die dort in der Dunkelheit hockten und auf mich warteten. In Sekundenschnelle war ich durch einen Schlag betäubt und an Händen und Füßen gefesselt. Doch der wirkliche Schlag wurde gegen mein Herz geführt, nicht gegen meinen Kopf; denn als ich wieder zu mir kam und von dem Gespräch der Männer erlauschte, was ich verstehen konnte, hörte ich genug, um zu begreifen, daß mein Kamerad, derselbe, der den Weg, den ich nehmen sollte, vorgeschlagen hatte, ein Verräter war; mit Hilfe eines eingeborenen Dieners hatte er mich in die Hände der Feinde überliefert.
Nun, ich brauche mich wohl nicht länger über diesen Teil der Geschichte auszulassen. Sie wissen jetzt, wozu James Barclay fähig war. Bhurtee wurde am nächsten Tag durch Neill befreit, aber mich nahmen die Rebellen auf ihrem Rückzug mit, und es hat viele Jahre gedauert, bis ich wieder ein weißes Gesicht sah. Man folterte mich, ich versuchte zu fliehen, wurde wieder eingefangen und wieder gefoltert. Sie sehen selbst, in welchen Zustand man mich gebracht hat. Einige der Aufständischen flohen nach Nepal und nahmen mich mit, und ich geriet in die Gegend hinter Darjeeling. Die Bergbevölkerung dort ermordete die Rebellen, die mich gefangen hielten, und ich wurde ihr
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