Die Menschenleserin
Dance gab der Frau die Nummer ihres Mobiltelefons und ihres Anschlusses beim CBI, und Rebecca versprach, sich zu melden, falls ihr jemand einfiele, der Pell behilflich sein oder wissen könnte, wo er sich aufhielt.
Kathryn drückte die Gabel des Telefons herunter und ließ sie wieder los. Dann wählte sie die zweite Nummer, die sich als die der Kirche der Heiligen Bruderschaft in Portland erwies. Sie wurde zu Linda Whitfield durchgestellt, die auch noch nichts von der Flucht gehört hatte. Ihre Reaktion fiel vollkommen anders aus: Stille, unterbrochen von einem fast unhörbaren Flüstern. Alles, was Dance verstand, war »Herr Jesus«.
Offenbar ein Gebet, kein Ausruf. Die Frau verstummte, oder die Leitung war unterbrochen.
»Hallo?«, fragte Dance.
»Ja, ich bin hier«, sagte Linda.
Dance stellte ihr die gleichen Fragen wie zuvor Rebecca Sheffield.
Linda hatte seit Jahren nichts mehr von Pell gehört – wenngleich sie nach den Croyton-Morden noch etwa achtzehn Monate in Verbindung geblieben waren. Schließlich hatte sie aufgehört, ihm zu schreiben, und er hatte sich nie wieder gemeldet. Sie wusste nichts über den Verbleib von Samantha McCoy, schilderte Dance aber ebenfalls, dass ein gewisser Morton Nagle sie vor einem Monat angerufen habe. Kathryn versicherte ihr, sie würden den Mann kennen und seien überzeugt, dass er nicht mit Pell zusammenarbeite.
Was Pells gegenwärtiges Ziel oder seine Komplizen anging, war Linda überfragt.
»Wir wissen nicht, was er vorhat«, sagte Dance. »Und wir haben keinen Grund zu der Annahme, Sie könnten in Gefahr schweben, aber...«
»Oh, Daniel würde mir nichts tun«, sagte sie schnell.
»Vielleicht sollten Sie dennoch Ihr zuständiges Polizeirevier verständigen.«
»Gut, ich werde es mir überlegen.« Sie hielt kurz inne. »Gibt es eine Hotline, wo ich anrufen und mich über den aktuellen Stand informieren kann?«
»Wir haben noch nichts Derartiges eingerichtet. Aber die Medien berichten umfassend über den Fall. Sobald wir etwas erfahren, werden Sie es in den Nachrichten sehen.«
»Tja, mein Bruder hat aber keinen Fernseher.«
Keinen Fernseher?
»Okay, falls es wichtige Neuerungen gibt, lasse ich es Sie wissen. Und falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Dance nannte ihr die Telefonnummern und legte auf.
Gleich darauf betrat CBI-Chef Charles Overby den Raum. »Die Pressekonferenz ist ganz gut gelaufen, glaube ich. Es waren ein paar heikle Fragen dabei, so wie immer. Aber ich habe sie nicht schlecht gekontert, muss ich sagen. Bin denen einen Schritt voraus geblieben. Haben Sie es gesehen?« Er wies auf das Fernsehgerät in der Ecke. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Ton aufzudrehen, um Overbys Auftritt zu verfolgen.
»Ich hab’s verpasst, Charles. War am Telefon.«
»Wer ist das?«, fragte Overby. Er hatte Nagle angestarrt, als käme er ihm bekannt vor.
Dance stellte die beiden einander vor, und der Dienststellenleiter verlor sofort das Interesse an dem Autor. »Irgendwelche Fortschritte?« Ein kurzer Blick auf die Straßenkarten.
»Der Wagen wurde nirgendwo gesichtet«, sagte Dance und erwähnte, dass sie mit zwei der Frauen aus Pells Familie gesprochen hatte. »Eine lebt in San Diego, die andere in Portland, und nach der dritten suchen wir noch. Wenigstens wissen wir, dass keine der ersten beiden seine Komplizin ist.«
»Weil Sie den Frauen glauben?«, fragte Overby. »Haben Sie das am Tonfall ihrer Stimmen erkannt?«
Keiner der Beamten im Raum sagte etwas. Daher musste Dance ihren Chef auf seinen offensichtlichen Denkfehler hinweisen.
»Falls die beiden die Bombe gelegt hätten, könnten sie inzwischen noch nicht wieder zu Hause sein.«
Eine kurze Pause. »Ach so, Sie haben die beiden am jeweiligen Wohnort erreicht«, sagte Overby. »Das haben Sie verschwiegen.«
Kathryn Dance, die ehemalige Reporterin und Beraterin bei der Geschworenenauswahl, wusste schon lange, wie es im wirklichen Leben zuging. Sie wich TJs Blick aus und sagte: »Stimmt, Charles, das habe ich. Tut mir leid.«
Der CBI-Chef wandte sich an O’Neil. »Dieser Fall ist ein harter Brocken, Michael. Mit jeder Menge Aspekte, die berücksichtigt werden müssen. Ich bin froh, dass Sie uns behilflich sind.«
»Ich tue gern, was ich kann.«
Charles Overby war in seinem Element. Mit dem Wörtchen »behilflich« machte er klar, wer hier das Sagen hatte, und ließ O’Neil gleichzeitig wissen, dass auch für den Chief Deputy und das MCSO viel auf dem Spiel
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