Die Menschenleserin
O’Neil mit leiser, ruhiger Stimme. Wenn der Chief Deputy in diesem Tonfall etwas äußerte, waren die Angesprochenen stets gut beraten, es sich zu Herzen zu nehmen.
»Sicher. Ich werde nichts sagen.«
»Das wissen wir zu schätzen«, sagte Dance. »Mr. Nagle, verfügen Sie über Informationen, die uns weiterhelfen könnten? Wohin Daniel Pell unterwegs sein oder was er vorhaben könnte? Wer ihm behilflich ist?«
Mit seinem Schmerbauch, dem dünnen Haar und dem freundlichen Lächeln wirkte Nagle wie ein in die Jahre gekommener Kobold. Er zog sich die Hose hoch. »Keine Ahnung, tut mir leid. Ich habe wirklich erst vor einem Monat oder so mit dem Projekt angefangen und seitdem nicht mehr als ein paar grundlegende Recherchen angestellt.«
»Sie haben erwähnt, Sie wollten auch über die Frauen in Pells Familie schreiben. Haben Sie sich mit ihnen in Verbindung gesetzt?«
»Mit zwei von ihnen. Ich habe sie gefragt, ob sie bereit wären, sich von mir interviewen zu lassen.«
»Die Frauen sind auf freiem Fuß?«, fragte O’Neil.
»Aber ja. Sie waren an den Croyton-Morden nicht beteiligt und wurden nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt, hauptsächlich wegen Eigentumsdelikten.«
O’Neil sprach aus, was Dance dachte. »Könnte eine von ihnen Pells Komplizin sein? Oder sogar beide?«
Nagle überlegte eine Weile. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er dann. »Die beiden halten Pell für das Schlimmste, was ihnen je passiert ist.«
»Wer sind sie?«, fragte O’Neil.
»Rebecca Sheffield. Sie lebt in San Diego. Und Linda Whitfield wohnt in Portland.«
»Sind die beiden sauber geblieben?«
»Denke schon. Ich hab jedenfalls nichts Gegenteiliges gefunden. Linda lebt bei ihrem Bruder und dessen Frau und arbeitet für eine Kirche. Rebecca hat eine Beratungsfirma für kleine Unternehmen. Ich habe den Eindruck, dass die beiden mit der Vergangenheit abgeschlossen haben.«
»Haben Sie ihre Telefonnummern?«
Der Autor blätterte in seinem dicken Notizbuch. Seine Handschrift war unsauber und ausladend – und die Notizen umfangreich.
»Es gab in der Familie noch eine dritte Frau«, sagte Dance, die zur Vorbereitung des Verhörs entsprechende Nachforschungen angestellt hatte.
»Samantha McCoy. Sie ist vor Jahren verschwunden. Rebecca sagt, sie habe ihren Namen geändert und sei weggezogen, weil sie es satthatte, als eines von Daniels ›Mädchen‹ bekannt zu sein. Ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen, sie bislang aber noch nicht finden können.«
»Gibt es Hinweise?«
»Irgendwo an der Westküste, mehr wusste Rebecca nicht.«
»Finde sie«, sagte Dance zu TJ. »Samantha McCoy.«
Der Agent mit dem lockigen Haar zog sich in eine Ecke des Raumes zurück. Er sieht irgendwie auch wie ein Kobold aus, dachte Dance.
Nagle fand die Nummern der beiden Frauen, und Dance schrieb sie sich auf. Dann rief sie Rebecca Sheffield in San Diego an.
»Women’s Initiatives«, meldete sich eine Empfangsdame, deren leichter Akzent sie als Mexikanerin auswies. »Was kann ich für Sie tun?«
Gleich darauf sprach Dance mit der Firmenchefin, einer sachlichen Frau mit leiser, rauer Stimme. Als Rebecca Sheffield von Pells Flucht erfuhr, war sie schockiert.
Und wütend. »Ich dachte, er sitzt in irgendeinem Superknast.«
»Er ist nicht von dort entkommen, sondern aus dem Zellentrakt des Bezirksgerichts.«
Dance fragte, ob die Frau sich vorstellen könne, wohin Pell wohl gehen würde, wer sein Komplize sein mochte und welche anderen Freunde er womöglich kontaktieren wolle.
Doch Rebecca fiel nichts ein. Sie sagte, sie habe Pell nur wenige Monate vor den Croyton-Morden zum ersten Mal getroffen und sei gerade dabei gewesen, ihn und die anderen besser kennenzulernen, als sie verhaftet wurden. Dann fügte sie hinzu, vor ungefähr einem Monat habe jemand sie angerufen, der angeblich ein Buch schrieb. »Er klang echt. Aber vielleicht hat er etwas mit dem Ausbruch zu tun. Sein Vorname war Murry oder Morton. Ich glaube, ich habe hier irgendwo seine Nummer.«
»Nicht nötig. Er ist hier bei uns. Wir haben ihn überprüft.«
Über Samantha McCoys Aufenthaltsort oder neue Identität konnte Rebecca keine weiteren Angaben machen.
»Damals, vor acht Jahren, habe ich ihn zwar nicht verpfiffen, aber später mit der Polizei kooperiert«, sagte sie verunsichert. »Glauben Sie, ich bin in Gefahr?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber solange er noch nicht wieder festgenommen wurde, können Sie sich gern an die Polizei von San Diego wenden.«
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