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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Verhörmodus. Wäre Waters ein Verdächtiger oder ein unwilliger Zeuge gewesen, hätte sie bei bestimmten Antworten nach Stresssymptomen gesucht und dann nachgehakt, bis er die Lüge eingestanden und schließlich die Wahrheit gesagt hätte.
    Das funktioniert jedoch nur, wenn man sich vor den heiklen Fragen einen grundlegenden Eindruck vom Verhalten des Gesprächspartners verschafft, wozu Dance natürlich keine Veranlassung gesehen hatte, weil sie davon ausgegangen war, der Mann würde aufrichtig sein.
    Aber auch ohne diese Vergleichsmöglichkeit vermag ein aufmerksamer Kinesik-Experte eine Irreführung bisweilen zu entdecken. Zwei Signale deuten mit einiger Zuverlässigkeit auf eine Lüge hin: Das erste ist ein kaum merklicher Anstieg der Tonhöhe einer Stimme, weil die meisten Menschen beim Lügen emotional reagieren, und diese Gefühlsregung bewirkt, dass die Stimmbänder sich straffen. Das andere Signal ist eine Pause vor und während einer Antwort, weil eine Lüge zugleich eine intellektuelle Anstrengung darstellt. Wer lügt, muss ständig darüber nachdenken, was er und andere bislang zu dem betreffenden Thema gesagt haben, und sich dann eine erfundene Äußerung zurechtlegen, die sowohl zu den bisherigen Angaben passt als auch zu dem, was der Fragende seiner Ansicht nach weiß.
    Bei ihrem Gespräch mit dem Aufseher hatte Dance gemerkt, dass die Tonhöhe seiner Stimme an mehreren Stellen gestiegen war und dass er Pausen eingelegt hatte, obwohl eigentlich keine Notwendigkeit dazu bestand. Daraufhin hatte Dance auch auf andere Verhaltensmerkmale geachtet und festgestellt, dass sie auf eine Täuschung hinwiesen: Er bot ihr mehr Informationen an als notwendig, schweifte ab, ließ sich zu verräterischen Gesten hinreißen – insbesondere die Berührung von Kopf, Nase und Augen – und wich Dance unwillkürlich aus, indem er den Blick von ihr abwandte.
    Sobald es derartige Anzeichen für eine Irreführung gibt, wird aus einem Gespräch ein Verhör, und der Ansatz des Beamten ändert sich. Dance hatte an diesem Punkt der Unterredung die Fragen über Pell abgebrochen und war auf Themen zu sprechen gekommen, bei denen für Waters kein Anlass zur Lüge bestehen würde – sein Privatleben, die Monterey Halbinsel und so weiter. Auf diese Weise versuchte sie, den grundlegenden Eindruck nachzuholen.
    Unterdessen führte Dance ihre übliche vierteilige Analyse des Verdächtigen durch, um den weiteren Verlauf des Verhörs zu planen.
    Zunächst fragte sie sich, was seine Rolle bei dem Vorfall sein mochte. Sie kam zu dem Schluss, dass Tony Waters bestenfalls ein widerspenstiger Zeuge und schlimmstenfalls ein Komplize von Pell war.
    Zweitens, hatte er ein Motiv, sie zu belügen? Natürlich. Waters wollte nicht festgenommen werden oder seinen Job verlieren, weil er absichtlich oder fahrlässig Daniel Pells Flucht unterstützt hatte. Vielleicht gab es für ihn auch ein persönliches oder finanzielles Interesse, dem Killer behilflich zu sein.
    Drittens, was für eine Persönlichkeit war er? Verhörspezialisten benötigen diese Information, um ihr eigenes Verhalten auf den Befragten abzustimmen – und beispielsweise eher aggressiv oder eher versöhnlich vorzugehen. Manche Beamte unterscheiden bei den Verdächtigen lediglich zwischen introvertiert und extrovertiert, was bereits recht guten Aufschluss darüber gibt, wie viel Druck ausgeübt werden kann. Dance hingegen bevorzugte eine umfassendere Methode und hielt sich möglichst an den Myers-Briggs-Typindex, der außer introvertiert/extrovertiert noch drei weitere Attributspaare kennt: denkend/fühlend, rational/intuitiv, beurteilend/wahrnehmend.
    Dances Ergebnis lautete, dass Waters ein denkender, rationaler, beurteilender Extrovertierter war, was bedeutete, dass sie ihm gegenüber härter vorgehen konnte als bei einer gefühlsbetonteren, nach innen gerichteten Person und dass ihr diverse Belohnungs-/ Straftechniken zur Verfügung standen, um die Lügen aufzudecken.
    Zuletzt fragte sie sich: Was für eine »Lügnerpersönlichkeit« ist Waters? Auch dort gibt es unterschiedliche Typen: Manipulatoren oder »Machiavellisten« (nach dem berühmten italienischen Staatstheoretiker) lügen ungestraft und finden nichts Falsches daran; sie bedienen sich der Täuschung, um ihre Ziele zu erreichen, ob in der Liebe, im Berufsleben, in der Politik – oder im Verbrechen. Zu den anderen Ausprägungen gehören die Geselligkeitslügner, die zum Vergnügen die Unwahrheit sagen, und die Anpasser,

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