Die Menschenleserin
Landkarten. Wenn man sich verirrte, war man hilflos, ohne Kontrolle. Er wusste noch, dass einst eine Karte – nun ja, das Fehlen einer Karte – eine bedeutende Rolle in der Geschichte dieser Ecke von Kalifornien gespielt hatte. Sogar für genau das Gebiet, in dem sie jetzt saßen, die Monterey Bay. In seiner Familie, vor vielen Jahren, hatten sie sich nach dem Abendessen immer im Kreis hingesetzt, und Linda musste laut vorlesen. Pell hatte oftmals Autoren aus der Region ausgewählt oder Bücher, die in dieser Gegend spielten. An eines konnte er sich gut erinnern, die Entstehungsgeschichte von Monterey. Die Bucht war im frühen siebzehnten Jahrhundert von den Spaniern entdeckt worden. Die Bahia de Monte Rey, benannt nach einem reichen Gönner der Expedition, galt als echter Glückstreffer – fruchtbares Land, ein perfekter Hafen, die strategisch günstige Lage -, und der Gouverneur wollte dort eine große Kolonie errichten. Doch nachdem die Entdecker weggesegelt waren, gelang es ihnen nicht mehr, die Bucht wiederzufinden.
Eine Reihe von Expeditionen machte sich vergeblich auf die Suche. Je mehr Jahre verstrichen, desto sagenhaftere Dimensionen nahm die Monterey Bay in den Vorstellungen der Spanier an. Eines der größten Truppenkontingente stieß über Land von San Diego aus nordwärts vor und war fest entschlossen, die Bahia zu lokalisieren. In ständigem Kampf gegen die Elemente und die Grizzlybären drehten die Konquistadoren jeden Stein bis hinauf nach San Francisco um – und schafften es trotzdem, die riesige Bucht irgendwie zu verfehlen.
Einfach nur, weil sie kein exaktes Kartenmaterial besaßen.
Nachdem Pell es geschafft hatte, in Capitola online zu gehen, war er auf eine großartige Internetseite namens Visual-Earth gestoßen, wo man auf eine Landkarte klicken konnte und dadurch ein Satellitenfoto der ausgewählten Stelle auf den Bildschirm holte. Pell war begeistert gewesen. Er hatte einige wichtige Orte inspizieren müssen und daher keine Muße gehabt. Aber er freute sich jetzt schon auf die Zeit, wenn sein Leben in geordneteren Bahnen verlaufen und er viele Stunden auf dieser Internetseite würde verbringen können.
Nun zeigte Jennie ihm mehrere Punkte auf der Karte, die vor ihnen lag, und Pell nahm die Informationen auf. Doch wie immer lauschte er auch auf alles um sich herum.
»Er ist ein guter Hund. Er muss nur besser abgerichtet werden.«
»Es ist eine lange Fahrt, aber wenn man sich Zeit nimmt, macht es viel Spaß. Kennst du die Strecke?«
»Ich habe vor zehn Minuten bestellt. Können Sie mal nachsehen, was da so ewig dauert?«
Diese letzte Bemerkung ließ Pell zum Tresen schauen.
»Tut mir leid«, sagte der Mann mittleren Alters, der an der Kasse saß, zu einem Gast. »Wir sind heute einfach ein wenig unterbesetzt.« Der Mann, offenbar der Eigentümer oder Geschäftsführer, war nervös und sah überall hin, nur nicht zu Pell und Jennie.
Schlaue Leute können folgern, warum du dein Verhalten geändert hast, und es dann gegen dich verwenden.
Als Pell das Essen bestellt hatte, waren drei oder vier Kellnerinnen zwischen der Küche und den Tischen hin-und hergeeilt. Nun war hier nur noch dieser Mann bei der Arbeit.
Er hatte alle seine Angestellten angewiesen, sich zu verstecken.
Pell sprang auf und stieß dabei den Tisch um. Jennie ließ vor Schreck die Gabel fallen und stand ebenfalls auf.
Der Geschäftsführer starrte sie entsetzt an.
»Du Arschloch«, murmelte Pell und zog die Pistole aus dem Hosenbund.
Jennie schrie.
»Nein, nein... ich...« Der Geschäftsführer überlegte eine Sekunde lang und floh in die Küche. Seine Gäste ließ er im Stich. Sie riefen laut durcheinander und warfen sich zu Boden.
»Was ist denn, Schatz?«, fragte Jennie panisch.
»Lass uns gehen. Zum Wagen.« Er hob die Karte auf, und sie liefen hinaus.
Im Süden konnte er weit in der Ferne winzige Blinklichter erkennen.
Jennie war wie gelähmt. »Engelsgesänge, Engelsgesänge...«, flüsterte sie.
»Komm schon!«
Sie stiegen ein. Pell fuhr rückwärts aus der Parklücke, legte den Gang ein, gab Gas und raste über die schmale Brücke auf den Highway 1 zu. Jennie rutschte fast vom Sitz, als sie auf der anderen Seite über das unebene Pflaster holperten. Pell bog in Richtung Norden auf den Highway ein, fuhr etwa hundert Meter weit und bremste scharf. Ihnen kam ein Streifenwagen entgegen.
Pell sah nach rechts, trat das Gaspedal durch und hielt genau auf die Einfahrt des Kraftwerks zu, eines riesigen,
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