Die Menschenleserin
Bei mir hat er das auch versucht. Ich habe ihn ausgelacht und gesagt, dass übersinnliche Kräfte bei Anwälten nicht funktionieren. Die Jury hat ebenfalls gelacht, und damit war der Bann gebrochen.« Er schüttelte den Kopf. »Für die Nadel hat es nicht gereicht, aber ich war mit den diversen lebenslangen Haftstrafen zufrieden.«
»Haben Sie auch die drei Frauen der Familie angeklagt?«
»Es gab eine Absprache mit der Verteidigung. Den Frauen konnte fast nur Kleinkram zur Last gelegt werden, und mit dem Fall Croyton hatten sie nichts zu tun, davon bin ich überzeugt. Bevor sie Pell begegnet sind, ist keine von ihnen je mit etwas Schlimmerem aufgefallen als Trinken in der Öffentlichkeit oder etwas Hasch, glaube ich. Pell hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen... Jimmy Newberg war anders. Er war als gewalttätig bekannt und hatte wegen schweren Diebstahls und Drogenhandels vor Gericht gestanden.«
In der geräumigen Küche, die ganz in Gelb und Beige gehalten war, legte Reynolds eine Schürze an. Anscheinend hatte er sie abgestreift, bevor er an die Tür gekommen war. »Nach meiner Pensionierung habe ich mit dem Kochen angefangen. Interessanter Kontrast. Einen Staatsanwalt kann niemand leiden. Aber von meiner Bouillabaisse« – er nickte in Richtung eines großen orangefarbenen Topfes, in dem Meeresfrüchte kochten – »sind alle begeistert.«
»Aha«, sagte Dance und schaute sich mit übertriebenem Stirnrunzeln um. »So sieht also eine Küche aus.«
»Oh, eine Stammkundin beim Pizzabringdienst. Genau wie ich, als ich noch Junggeselle war.«
»Meine armen Kinder. Das einzig Gute ist, dass sie gar keine andere Wahl haben, als selbst kochen zu lernen. Am letzten Muttertag haben sie mir Erdbeerpfannkuchen serviert.«
»Und Sie mussten nichts anderes tun, als hinterher sauberzumachen. Hier, kosten Sie mal.«
Sie konnte nicht widerstehen. »Okay, aber nur ein wenig.«
Er füllte eine Suppentasse. »Dazu gehört eigentlich Rotwein.«
»Auf den muss ich verzichten.« Sie probierte die Bouillabaisse. »Ausgezeichnet!«
Reynolds hatte sich mit Sandoval und dem Sheriff von Monterey County in Verbindung gesetzt und den aktuellen Stand der Ermittlungen erfahren, einschließlich der Tatsache, dass Pell in der näheren Umgebung blieb. (Dance war nicht entgangen, dass er beim CBI sie und nicht Charles Overby angerufen hatte.)
»Ich werde tun, was ich kann, um Ihnen bei der Ergreifung dieses Mistkerls zu helfen.« Der einstige Staatsanwalt schnitt sorgfältig eine Tomate in Scheiben. »Sie brauchen es nur zu sagen. Ich habe bereits mit der Firma gesprochen, die für das Archiv des Bezirks zuständig ist, und lasse mir alle meine Aufzeichnungen zu dem Fall bringen. Neunundneunzig Prozent davon dürften für die Suche nach Pell nutzlos sein, aber vielleicht gibt es ein oder zwei Glückstreffer. Und ich nehme mir jede einzelne Seite vor, falls nötig.« Dance sah ihm in die dunklen Augen, in denen große Entschlossenheit lag, ganz anders als beispielsweise in Morton Nagles begeistert funkelndem Blick. Sie wusste, dass Reynolds hart und kompromisslos vorgehen würde.
»Das wäre wirklich sehr hilfreich, James. Vielen Dank.« Dance aß auf, spülte die Suppentasse ab und stellte sie zurück. »Ich wusste gar nicht, dass Sie noch in Carmel wohnen. Es hieß, Sie wären nach Santa Barbara gezogen.«
»Wir haben dort eine kleine Bleibe, aber den Großteil des Jahres sind wir hier.«
»Nachdem Sie angerufen hatten, habe ich mit Michael O’Neil gesprochen. Es wäre mir lieb, wenn wir draußen einen Deputy postieren könnten.«
Reynolds lehnte ab. »Ich habe eine gute Alarmanlage. Und man kann mich praktisch nicht aufspüren. Als ich leitender Staatsanwalt wurde, bekam ich Drohungen – es ging in den Prozessen damals um die Banden aus Salinas. Ich ließ mir eine geheime Telefonnummer geben, und das Haus wurde nominell an einen Treuhänder überschrieben. Pell kann mich unmöglich finden. Außerdem darf ich verdeckt eine Waffe tragen.«
Dance gab sich nicht so leicht geschlagen. »Er hat heute bereits mehrere Morde begangen.«
Er zuckte die Achseln. »Also gut, von mir aus. Ich nehme den Babysitter. Kann ja nicht schaden – und mein jüngerer Sohn ist gerade zu Besuch. Warum das Risiko eingehen?«
Dance setzte sich auf einen Hocker und stellte ihre kastanienbraunen, keilförmigen Aldos auf die Querstreben. Die Riemen der Schuhe waren mit den leuchtenden Abbildungen von Gänseblümchen versehen. Wenn es um Schuhe ging,
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