Die Menschenleserin
ich habe mit jemandem darüber gesprochen. Draußen.«
Ich glaube ...
Eine typische Formulierung für eine Verleugnung. Die Frau redete sich unterbewusst ein, dass sie eine Stellungnahme äußerte, keine irreführende Behauptung.
»Wer hat es Ihnen erzählt?«, ließ Dance nicht locker.
»Ich habe sie nicht gekannt.«
»Ein Mann oder eine Frau?«
Wieder ein Zögern. »Ein Mädchen, eine Frau. Aus einem anderen Staat.« Sie wandte den Kopf ab und rieb sich die Nase – eine Ausweich-/Abblockreaktion.
»Wo ist Ihr Wagen?«, fragte Dance.
»Mein...«
Über die Bedeutung der Augen bei der kinesischen Analyse gibt es verschiedene Ansichten. Manche Beamte glauben, dass es auf eine Lüge hindeutet, wenn ein Verdächtiger den Blick abwendet. Dance wusste, dass es sich nicht ganz so simpel verhielt: Das Abwenden der Augen – im Gegensatz zum Abwenden des Körpers oder des Gesichts – steht in keiner Wechselbeziehung zu einer Täuschung; dazu lässt es sich zu einfach kontrollieren.
Dennoch sind die Augen überaus aufschlussreich.
Dance war während des Gesprächs aufgefallen, dass die Frau immer wieder zu einer bestimmten Stelle des Parkplatzes schaute. Dabei ließ sie jedes Mal allgemeine Stressindikatoren erkennen: Sie verlagerte das Gewicht und presste die Fingerspitzen aneinander. Dance begriff: Pell hatte ihr Auto gestohlen und gedroht, er oder der berüchtigte Partner würden ihre Familie ermorden, falls sie etwas verriet. Genau wie bei dem Worldwide-Express-Fahrer.
Dance seufzte verärgert. Falls die Frau gleich bei ihrer Ankunft damit herausgerückt wäre, hätten sie Pell inzwischen womöglich zu fassen bekommen.
Oder falls ich nicht blindlings dem Geschlossen-Schild geglaubt und eher an die Tür geklopft hätte, tadelte sie sich im Stillen selbst.
»Ich...« Die Frau fing an zu weinen.
»Ich verstehe. Wir werden für Ihre Sicherheit sorgen. Was für ein Wagen ist es?«
»Ein dunkelblauer Ford Focus. Drei Jahre alt. Hinten ist ein Aufkleber über die globale Erwärmung drauf. Und er hat eine Beule in...«
»Wohin sind sie gefahren?«
»Nach Norden.«
Dance ließ sich das Kennzeichen geben und rief O’Neil, der die Funkzentrale des MCSO veranlassen würde, an alle Einheiten eine Fahndungsmeldung nach dem Wagen herauszugeben.
Während die Verkäuferin mit einer Freundin telefonierte, bei der sie bis zu Pells Verhaftung wohnen wollte, starrte Dance auf die Rauchwolke, die immer noch über dem Thunderbird hing. Sie war wütend. Eddie Changs Informationen und ihre Schlussfolgerung hatten sich als richtig erwiesen, und der Plan für die Verhaftung hatte Hand und Fuß gehabt. Alles umsonst.
TJ kam mit dem Geschäftsführer von Jack’s Seafood zu ihr. Der Mann schilderte seine Version der Ereignisse und ließ dabei eindeutig etwas aus, vermutlich die Tatsache, dass er Pell versehentlich vor der Polizei gewarnt hatte. Dance konnte es ihm nicht verübeln. Sie erinnerte sich an den Pell, der ihr beim Verhör gegenübergesessen hatte – und an sein bisheriges Verhalten am heutigen Tag.
Der Geschäftsführer beschrieb die Komplizin als sehr dünn und »auf eine unscheinbare Art« hübsch. Sie habe Pell fast die ganze Zeit angehimmelt und kaum die Finger von ihm lassen können. Ihr Alter schätzte er auf Mitte zwanzig. Der Mann sagte, er habe die beiden für Hochzeitsreisende gehalten, und fügte hinzu, sie hätten eine Weile über einer Landkarte gebrütet.
»Von welchem Gebiet?«
»Von hier, Monterey County.«
Michael O’Neil klappte sein Telefon zu und gesellte sich zu Dance. »Der Focus wurde noch nicht gesichtet«, sagte er. »Er muss während der Evakuierungsmaßnahme im Verkehr mitgeschwommen sein. Verflucht, er ist vielleicht nach Süden abgebogen und direkt an uns vorbeigefahren.«
Dance rief Carraneo zu sich. Der junge Mann sah müde aus. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, doch der war noch nicht vorbei. »Finden Sie so viel wie möglich über den Thunderbird heraus. Und rufen Sie die Motels und Pensionen von Watsonville bis nach Big Sur an. Fragen Sie, ob eine blonde Frau dort eingecheckt und auf dem Anmeldeformular einen Thunderbird als ihr Fahrzeug angegeben hat. Oder ob jemand einen Thunderbird gesehen hat. Da der Wagen am Freitag gestohlen wurde, dürfte sie am Freitag, Samstag oder Sonntag eingetroffen sein.«
»Natürlich, Agent Dance.«
Sie und O’Neil sahen beide nach Westen, hinaus auf das ruhige Meer. Die Sonne stand als breite, flache Scheibe tief über dem
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