Die Menschenleserin
Ärzte bewirken konnten und was nicht. Sie und O’Neil hatten sich im Verlauf der letzten Jahre mehrmals gegenseitig gestützt, hauptsächlich in beruflicher Hinsicht, manchmal aber auch bei privaten Problemen wie dem Tod von Kathryns Ehemann oder dem sich verschlechternden Geisteszustand von O’Neils Vater.
Keiner von ihnen war geübt darin, Mitleid oder Trost auszudrücken; Gemeinplätze wurden ihrer Freundschaft ohnehin nicht gerecht. Meistens reichte es aus, dass der andere einfach da war.
»Hoffen wir das Beste.«
Als sie sich dem Ausgang näherten, erhielt Dance einen Anruf von FBI-Agent Winston Kellogg, der in seinem vorläufigen Büro beim CBI saß. Sie blieb stehen, und O’Neil ging hinaus auf den Parkplatz. Kathryn erzählte Kellogg von Millar. Und sie erfuhr von ihm, dass das FBI in Bakersfield eine gründliche Befragung durchgeführt, aber keine Zeugen für den Einbruch in den Werkzeugschuppen oder die Garage von Pells Tante gefunden hatte, wo der Hammer entwendet worden war. Was die Brieftasche mit den Initialen R. H. anging, die bei dem Hammer in dem Brunnenschacht gelegen hatte, waren die Spurensicherungsexperten seiner Behörde nicht in der Lage, sie zu dem Käufer zurückzuverfolgen.
»Und, Kathryn, der Jet steht aufgetankt in Oakland, falls Linda Whitfield ihre Erlaubnis von höherer Stelle bekommt. Eine Sache noch... Was ist mit der dritten Frau?«
»Samantha McCoy?«
»Richtig. Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«
In diesem Moment schaute Dance zufällig quer über den Parkplatz. Sie sah, dass Michael O’Neil soeben sein Telefon zusammenklappte und eine hochgewachsene attraktive Blondine auf ihn zukam. Die Frau lächelte O’Neil an, legte die Arme um ihn und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss.
»Kathryn«, sagte Kellogg. »Sind Sie noch da?«
»Was?«
»Samantha McCoy?«
»Verzeihung.« Dance sah von O’Neil und der Blondine weg. »Nein. Ich fahre jetzt nach San Jose hinauf. Nachdem sie sich so viel Mühe gegeben hat, ihre Identität zu verschleiern, möchte ich sie persönlich treffen. Ich glaube, ein Anruf würde nicht reichen, sie zur Mithilfe zu bewegen.«
Sie unterbrach die Verbindung und ging zu O’Neil und der Frau in seinem Arm.
»Kathryn.«
»Anne, wie schön, dich zu sehen«, sagte Dance zu Michael O’Neils Gattin. Die beiden Frauen lächelten einander an und erkundigten sich dann jeweils nach den Kindern der anderen.
Anne O’Neil nickte in Richtung des Krankenhauses. »Ich möchte Juan besuchen. Mike sagt, es geht ihm nicht gut.«
»Nein. Es steht ziemlich schlecht. Er ist im Augenblick nicht bei Bewusstsein. Aber seine Eltern sind da und werden sich bestimmt über etwas Gesellschaft freuen.«
Von Annes Schulter hing eine kleine Kamera der Marke Leica. Dank des Landschaftsfotografen Ansel Adams und des Clubs f64 galten Nord-und Zentralkalifornien als eines der großen Foto-Mekkas dieser Welt. Anne leitete eine Galerie in Carmel, in der es fotografische »Sammlerstücke« zu kaufen gab, was meistens bedeutete, dass die Urheber der Aufnahmen nicht mehr am Leben waren: Adams, Alfred Stieglitz, Edward Weston, Imogen Cunningham, Henri Cartier-Bresson. Außerdem war Anne als freie Mitarbeiterin für mehrere Tageszeitungen tätig, darunter große Blätter in San Jose und San Francisco.
»Hat Michael dir von der Party heute Abend erzählt?«, fragte Dance. »Mein Vater hat Geburtstag.«
»Hat er. Ich glaube, wir schaffen’s rechtzeitig.«
Anne küsste noch einmal ihren Mann und ging dann in das Krankenhaus. »Bis später, Schatz.«
»Tschüs, Liebling.«
Dance nickte den beiden zum Abschied zu, setzte sich in ihren Wagen und warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz. Bei nächster Gelegenheit hielt sie kurz an, um zu tanken und sich Kaffee und einen Donut zu kaufen. Dann bog sie nach Norden auf den Highway 1 ein, wodurch sich ihr ein prachtvoller Ausblick auf die Monterey Bay eröffnete. Sie kam am Campus der Universität vorbei, die auf dem Gelände des früheren Fort Ord stand (und vermutlich das landesweit einzige College war, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft es ein Sperrgebiet voller nicht explodierter Artilleriemunition gab). Dance fiel ein, dass William Croyton der Hochschule einen Großteil seiner Hard-und Software hinterlassen hatte. Das lag nun acht Jahre zurück. Da es heute immer noch Computerexperten gab, die auf Basis dieser Spenden Forschungen anstellten, musste der Mann ein echtes Genie gewesen sein. Die Programme, die Wes und Maggie
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