Die Menschenleserin
sein.«
»Julio...«, setzte O’Neil an.
»Nein, Sie halten den Mund, Sie Judas. Sie arbeiten mit ihr zusammen. Und Sie haben zugelassen, dass sie ihn opfert.« Er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. »Ich rufe an. Jetzt gleich. Die werden Sie beide so was von am Arsch kriegen.«
»Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«, fragte Dance.
»Ach, jetzt haben Sie auf einmal Angst.«
Sie ging ein Stück zur Seite.
Julio gesellte sich kampfbereit zu ihr. Er hielt das Telefon wie ein Messer und beugte sich bis in Dances engeren Proximalbereich vor.
Sollte er doch. Sie rührte sich keinen Zentimeter und sah ihm in die Augen. »Es tut mir sehr leid um Ihren Bruder, und ich weiß, wie aufgewühlt Sie sind. Aber ich lasse mir nicht drohen.«
Der Mann lachte verbittert auf. »Sie sind genau wie...«
»Hören Sie gut zu«, sagte sie ruhig. »Wir wissen nicht sicher, was passiert ist, aber es steht fest, dass ein Häftling Ihren Bruder entwaffnet hat. Juan hat den Verdächtigen mit vorgehaltener Pistole in Schach gehalten; dann ist ihm die Kontrolle über die Situation entglitten, und er hat sich die Waffe abnehmen lassen.«
»Wollen Sie etwa behaupten, er sei selbst schuld gewesen?«, fragte Julio mit großen Augen.
»Ja. Genau das behaupte ich. Nicht ich war daran schuld, nicht Michael, sondern Ihr Bruder. Das macht aus ihm keinen schlechten Cop. Aber ihm ist ein Fehler unterlaufen. Und falls Sie seinen Fall in die Öffentlichkeit zerren, wird diese Tatsache in den Medien zur Sprache kommen.«
»Sie drohen mir?«
»Ich warne Sie, dass ich mir nicht in die Ermittlungen pfuschen lasse.«
»Oh, Sie wissen ja nicht, was Sie da tun, Lady.« Er drehte sich um und stürmte den Korridor hinunter.
Dance schaute ihm hinterher und versuchte sich zu beruhigen. Sie atmete tief durch. Dann kehrte sie zu den anderen zurück.
»Es tut mir so leid«, sagte Mr. Millar, der seiner Frau einen Arm um die Schultern gelegt hatte.
»Er ist durcheinander«, sagte Dance.
»Bitte, hören Sie nicht auf ihn. Er ist oft vorlaut und bedauert es später.«
Dance war überzeugt, dass der junge Mann kein einziges Wort bedauerte. Aber sie wusste auch, dass er in absehbarer Zeit keine Reporter anrufen würde.
»Und Juan spricht immer so nett von Ihnen«, sagte die Mutter zu O’Neil. »Er macht Ihnen ganz bestimmt keinen Vorwurf. Und auch sonst niemandem. Das weiß ich mit Sicherheit.«
»Julio liebt seinen Bruder«, beruhigte O’Neil die beiden. »Er macht sich einfach nur Sorgen.«
Dr. Olson kam. Der schmächtige, freundliche Mann brachte die Beamten und die Millars auf den neuesten Stand. Es hatte sich kaum etwas verändert. Man versuchte weiterhin, Juan zu stabilisieren. Sobald die Gefahr von Schock und Sepsis unter Kontrolle war, würde man ihn in ein großes Brandwunden-und Rehabilitationszentrum verlegen. Sein Zustand sei sehr ernst, räumte der Arzt ein. Zu den Überlebenschancen könne er sich nicht äußern, aber man bemühe sich hier nach besten Kräften.
»Hat er etwas über den Angriff gesagt?«, fragte O’Neil.
Olson ließ den Blick ruhig über die Monitore schweifen. »Er hat ein paar unzusammenhängende Worte von sich gegeben.«
Die Eltern fuhren fort, sich überschwänglich für das Verhalten ihres jüngeren Sohnes zu entschuldigen. Dance brachte einige Minuten damit zu, beschwichtigend auf die beiden einzureden. Dann verabschiedeten sie und O’Neil sich und machten sich auf den Weg nach draußen.
Der Detective spielte mit seinem Wagenschlüssel herum.
Ein Kinesik-Experte weiß, dass es unmöglich ist, starke Gefühlsregungen zu verbergen. Charles Darwin hat geschrieben: »Unterdrückte Emotion macht sich fast immer durch irgendeine Art von körperlicher Bewegung bemerkbar.« Für gewöhnlich handelt es sich dabei um Gebärden der Hände oder Finger oder ein Tappen mit dem Fuß – unsere Worte, Blicke und Mienen lassen sich vergleichsweise einfach kontrollieren, aber unsere Extremitäten haben wir längst nicht so gut im Griff.
Michael O’Neil war sich des Autoschlüssels in keiner Weise bewusst.
»Er hat hier die besten Ärzte dieser Gegend«, sagte Dance. »Und meine Mutter wird ihn im Auge behalten. Du kennst sie. Falls sie es für notwendig hält, wird sie den leitenden Oberarzt höchstpersönlich in Juans Zimmer befördern.«
Ein stoisches Lächeln. Das hatte Michael O’Neil wirklich gut drauf.
»Die können fast schon Wunder vollbringen«, sagte sie, hatte aber in Wahrheit keine Ahnung, was die
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