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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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nicht, was er vorhat.«
    Wieder eine Kopfbewegung, nur ganz sachte, aber Dance sah, wie sich das umwickelte Kinn rührte.
    »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Nicken Sie, falls Sie etwas gesehen oder gehört haben.«
    Nun bewegte sich nichts.
    »Juan«, setzte sie an, »haben Sie...«
    »He!«, rief eine männliche Stimme vom Eingang. »Zum Teufel, was machen Sie da?«
    Im ersten Moment glaubte sie, der Mann sei ein Arzt und ihre Mutter würde Schwierigkeiten bekommen, weil sie Dance unbeaufsichtigt in den Raum gelassen hatte. Aber der Fremde war ein junger, kräftiger Latino mit Anzug und Krawatte.
    »Julio«, sagte O’Neil.
    Die Krankenschwester kam herbeigeeilt. »Nein, nein, bitte schließen Sie die Tür! Sie dürfen nicht ohne Maske hinein...«
    Er stieß sie weg und konzentrierte sich weiter auf Dance. »Juan ist in diesem Zustand, und Sie befragen ihn?«
    »Ich bin Kathryn Dance vom CBI. Ihr Bruder weiß vielleicht etwas Hilfreiches über den Mann, der hierfür verantwortlich ist.«
    »Nun, er wird Ihnen wohl kaum behilflich sein können, wenn Sie ihn vorher umbringen.«
    »Falls Sie nicht sofort die Tür schließen, rufe ich den Sicherheitsdienst«, drohte die Schwester.
    Julio ließ sich nicht beirren. Dance und O’Neil gingen hinaus auf den Flur und machten die Tür hinter sich zu.
    Nun kam der Bruder erst richtig in Fahrt. »Ich kann’s nicht glauben. Wie kann man so respektlos...«
    »Julio«, unterbrach ihn sein Vater. Der Mann trug ein kurzärmliges Hemd und eine khakifarbene Hose. Seine untersetzte Frau stellte sich neben ihn. Ihr tiefschwarzes Haar war zerzaust.
    Julio ignorierte jeden außer Dance. »Das ist alles, nicht wahr? Er soll Ihnen erzählen, was Sie wissen wollen, und dann kann er sterben.«
    Sie blieb ruhig, denn sie sah, dass der junge Mann sich nicht unter Kontrolle hatte. Und sie nahm seine Wut nicht persönlich. »Wir sind sehr bemüht, den Mann zu fangen, der ihm das angetan hat.«
    »Junge, bitte! Du bringst uns in Verlegenheit.« Seine Mutter berührte ihn am Arm.
    »Ich bringe euch in Verlegenheit?«, spottete er. Dann wandte er sich wieder Dance zu. »Ich hab herumgefragt und mit ein paar Leuten gesprochen. Oh, ich weiß, was passiert ist. Sie haben ihn runter ins Feuer geschickt.«
    »Wie bitte?«
    »Sie haben ihn im Gerichtsgebäude nach unten zu dem Feuer geschickt.«
    Sie spürte, dass O’Neil sich anspannte, aber er hielt sich zurück. Ihm war klar, dass Dance ihre Kämpfe allein austrug. Sie beugte sich Julio ein Stück weiter entgegen. »Sie sind bestürzt, wir alle sind bestürzt. Warum gehen wir nicht...«
    »Sie haben ihn ausgesucht. Nicht Mikey hier. Nicht einen Ihrer CBI-Leute. Der einzige Chicano-Cop – und ausgerechnet den schicken Sie.«
    »Julio«, mahnte sein Vater streng. »Sag das nicht.«
    »Sie wollen also etwas über meinen Bruder erfahren? Ja? Wissen Sie, dass er zum CBI wollte? Aber man hat ihn nicht gelassen. Wegen seiner Herkunft.«
    Das war absurd. Es gab beim Personal aller Strafverfolgungsbehörden Kaliforniens einen hohen Anteil Latinos, auch beim CBI. Kathryns beste Freundin unter den Kollegen, Connie Ramirez, hatte mehr Auszeichnungen verliehen bekommen als jeder andere Agent in der Geschichte ihrer Dienststelle.
    Aber Julios Zorn hatte in Wahrheit natürlich nichts mit der repräsentativen Verteilung der Volksgruppen auf die Behörden des Staates zu tun, sondern mit der Angst um das Leben seines Bruders. Dance hatte viel Erfahrung mit Wut; genau wie Verleugnung und Niedergeschlagenheit gehörte sie zu den Stressphasen eines unaufrichtigen Verdächtigen. Wenn jemand einen Wutanfall bekommt, lässt man ihn sich am besten einfach austoben. Starker Zorn legt sich nach kurzer Zeit von selbst.
    »Er war nicht gut genug, um einen Job bei Ihnen zu kriegen, aber gut genug, um ins Feuer geschickt zu werden.«
    »Julio, bitte«, flehte seine Mutter. »Er ist außer sich. Hören Sie nicht auf ihn.«
    »Tu das nicht, Mama! Immer wenn du so etwas sagst, lässt du ihnen alles Mögliche durchgehen.«
    Der Frau liefen Tränen über die gepuderten Wangen und hinterließen breite Spuren.
    Der junge Mann drehte sich wieder zu Dance um. »Sie haben den Latinojungen geschickt, den chulo .«
    »Es reicht«, rief der Vater und nahm seinen Sohn beim Arm.
    Der junge Mann riss sich los. »Ich verständige die Zeitungen. Ich rufe bei KHSP an. Die werden einen Reporter schicken und herausfinden, was Sie getan haben. Es wird in allen Nachrichtensendungen zu sehen

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