Die Menschenleserin
nicht so sehr Sorgen wegen des Ausbrechers; es gefiel ihr einfach, noch mehr Zeit mit Gutierrez zu verbringen.
Sie schlenderten die Alvarado Street entlang. Es gab hier Restaurants, Andenkenläden und Cafés – ganz anders als an der frivolen Amüsiermeile, die diese Straße vor hundert Jahren gewesen war. Die Soldaten und die Arbeiter aus den Konservenfabriken hatten sich hier betrunken, die Bordelle besucht und sich gelegentlich mitten auf der Straße eine Schießerei geliefert.
Als Gutierrez und Susan weitergingen, verstummte ihr Gespräch, und sie sahen sich beide um. Susan fiel auf, dass die Straßen ungewöhnlich leer waren. War das wegen des Ausbruchs? Nun wurde ihr doch etwas unwohl zumute.
Ihr Büro lag neben einer Baustelle, einen Block von der Hauptstraße entfernt. Es gab hier stapelweise Baumaterial. Falls Pell hier war, konnte er sich mühelos dahinter verstecken und warten. Sie wurde langsamer.
»Ist das da Ihr Wagen?«, fragte Gutierrez.
Sie nickte.
»Alles in Ordnung?«
Susan verzog das Gesicht und lachte verlegen. Dann erzählte sie ihm, dass sie fürchtete, Pell könne sich zwischen den Materialstapeln versteckt haben.
Er lächelte. »Auch falls er tatsächlich hier wäre, würde er wohl kaum uns beide gleichzeitig angreifen. Kommen Sie.«
»César, warten Sie«, sagte sie und griff in ihre Handtasche. Sie gab ihm einen kleinen roten Zylinder. »Hier.«
»Was ist das?«
»Pfefferspray. Nur für den Fall.«
»Ich glaube, uns wird nichts passieren. Aber wie funktioniert das?«. Dann lachte er auf. »Ich will mich nicht selbst besprühen.«
»Sie müssen lediglich damit zielen und oben draufdrücken. Es ist einsatzbereit.«
Sie gingen zum Wagen weiter, und als sie dort eintrafen, kam Susan sich albern vor. Kein wahnsinniger Killer lauerte hinter den Backsteinstapeln. Sie fragte sich, ob ihre Nervosität sie wohl Punkte auf der potenziellen Ausgehskala gekostet hatte. Nein, offenbar nicht. Gutierrez schien es zu gefallen, den ritterlichen Gentleman zu spielen.
Sie schloss die Tür auf.
»Das gebe ich Ihnen lieber zurück«, sagte er und hielt ihr das Spray entgegen.
Susan griff danach.
Aber Gutierrez sprang vor, packte ihr Haar und riss brutal ihren Kopf nach hinten. Dann stieß er ihr die kleine Spraydose in den Mund, der sich zu einem erstickten Schrei geöffnet hatte.
Er drückte den Knopf.
Starker Schmerz ist wahrscheinlich die schnellste Möglichkeit, jemanden unter Kontrolle zu bekommen, dachte Daniel Pell.
Er steckte immer noch in der anscheinend überzeugenden Verkleidung eines Latino-Geschäftsmannes und fuhr mit Susan Pembertons Wagen zu einer einsamen Stelle am Meer, südlich von Carmel.
Schmerz... Tu ihnen weh, lass ihnen ein wenig Zeit, sich zu erholen, und dann droh damit, ihnen noch einmal wehzutun. Experten behaupten, Folter sei nicht effizient. Das stimmt nicht. Sie ist nicht elegant . Sie ist nicht sauber . Aber sie funktioniert wirklich gut.
Der Sprühstoß in Susan Pembertons Mund und Nase hatte nur eine Sekunde angedauert, aber nach ihren röchelnden Schreien und den wild um sich schlagenden Gliedern zu schließen, musste der Schmerz fast unerträglich sein. Pell ließ sie wieder zu Kräften kommen. Dann hielt er ihr das Spray vor die panisch aufgerissenen, tränenden Augen. Und bekam von ihr sofort genau das, was er wollte.
Das Spray war natürlich nicht eingeplant gewesen; er hatte Isolierband und ein Messer in der Aktentasche. Aber als die Frau ihm – nun ja, seinem Alter Ego, César Gutierrez – zu seiner Belustigung die Sprühdose gegeben hatte, hatte er kurzerhand improvisiert.
Daniel Pell wollte einige Dinge erledigen, aber solange sein Bild alle halbe Stunde im Fernsehen gezeigt wurde, konnte er sich nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen und musste daher jemand anderes werden. Nachdem es Jennie Marston unter Einsatz ihres Dekolletés gelungen war, den leichtgläubigen Trottel zum Verkauf des Toyotas zu bewegen, hatte sie ein Kleiderfärbemittel sowie eine Bräunungscreme besorgt, aus denen Pell sich ein Bad zusammenmischte, das ihm eine dunklere Haut verschaffen würde. Haare und Augenbrauen färbte er sich schwarz. An den Augen konnte er nichts ändern. Falls es überhaupt Kontaktlinsen gab, die Blau zu Braun werden ließen, wusste er nicht, wo er sie hätte kaufen können. Aber die Brille – eine simple Lesebrille mit dunklem Gestell – würde von den Augen ablenken.
Am Vormittag hatte Pell zudem die Brock Company angerufen und mit
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