Die Menschenleserin
Schatz. Sei nicht böse. Ich kann das nicht tun. Ich kann es einfach nicht.«
Pell sagte nichts, nickte nur. Ihre traurigen Augen und die Tränen schimmerten rot im Licht der untergehenden Sonne.
Es war ein berauschender Anblick.
»Sei mir nicht böse, Daniel. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du böse auf mich wärst.«
Pell zögerte drei Herzschläge lang, die perfekte Zeit, um Unsicherheit zu schüren. »Schon in Ordnung. Ich bin dir nicht böse.«
»Bin ich immer noch dein Liebling?«
Wieder eine Pause. »Natürlich bist du das.« Er wies sie an, zu ihrem Wagen zu gehen und dort zu warten.
»Ich...«
»Geh und warte auf mich. Es ist okay.« Dann sagte er nichts mehr. Jennie kehrte zu dem Toyota zurück. Er ging zum Kofferraum des Lexus und sah hinein.
Auf Susan Pembertons leblosen Körper.
Er hatte sie schon vor einer Stunde getötet, noch auf dem Parkplatz des Gebäudes. Sie war unter dem Klebeband erstickt.
Pell hatte nie vorgehabt, dass Jennie ihm bei dem Mord an der Frau helfen würde. Er hatte gewusst, dass sie davor zurückschreckte. Dieser ganze Zwischenfall diente lediglich als weitere Lektion bei der Ausbildung seiner Schülerin.
Sie war dem Punkt, an dem er sie haben wollte, einen Schritt näher gekommen. Tod und Gewalt lagen nun auf dem Tisch. Mindestens fünf oder zehn Sekunden lang hatte Jennie erwogen, ein Messer in einen menschlichen Körper zu stoßen, war darauf gefasst gewesen, das Blut fließen und ein Leben erlöschen zu sehen. Letzte Woche hätte sie sich diese Gedanken nicht einmal vorstellen können; nächste Woche würde sie bereits etwas länger darüber nachdenken.
Dann könnte sie tatsächlich einwilligen, ihm bei einem Mord behilflich zu sein. Und noch später? Vielleicht konnte er sie so weit bekommen, dass sie eigenständig tötete. Die Mädchen in der Familie hatten letztlich auch Dinge für ihn getan, die sie anfangs abgelehnt hatten – aber bloß kleinere Vergehen. Keine Gewalttaten. Doch Daniel Pell glaubte die Fähigkeit zu besitzen, Jennie Marston nach seinen Vorstellungen zu formen.
Er knallte den Kofferraumdeckel zu. Dann nahm er sich einen Kiefernzweig und verwischte damit die Fußabdrücke im Sand. Er ging zu dem Toyota und fegte dabei hinter sich her. Dort wies er Jennie an, so weit auf die Straße zu fahren, bis der Wagen vollständig auf Schotter stand, und verwischte auch die Reifenspuren. Schließlich gesellte er sich zu ihr.
»Ich fahre«, sagte er.
»Es tut mir leid, Daniel«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab. »Ich mache es wieder gut.«
Sie bettelte um ein Wort der Bestätigung.
Aber der Unterrichtsplan schrieb vor, dass Pell sie keiner Antwort würdigte.
... Fünfundzwanzig
Was für ein seltsamer Mann, dachte Kathryn Dance.
Morton Nagle zog sich die rutschende Hose hoch, setzte sich an den Beistelltisch in ihrem Büro und öffnete eine verschrammte Aktentasche.
Er wirkte ein wenig ungepflegt: Sein dünnes Haar war zerzaust, der Spitzbart ungleichmäßig gestutzt, die grauen Hemdmanschetten abgewetzt, der Leib schwammig. Aber er schien sich in seiner Haut wohlzufühlen, stellte Dance, die kinesische Analytikerin, fest. Sein präzises, zielgerichtetes Auftreten war stressfrei. Seine Augen mit ihrem schelmischen Funkeln wanderten beständig umher und entschieden sofort, was von Bedeutung war und was nicht. Als er Kathryns Büro betreten hatte, hatte er dessen Ausstattung ignoriert, kurz forschend in Dances Gesicht geschaut (und daraus vermutlich ihre Erschöpfung abgelesen), dem jungen Rey Carraneo einen freundlichen, aber ausdruckslosen Blick zugeworfen und sich unverzüglich auf Winston Kellogg konzentriert.
Und als er nun erfuhr, wer Kelloggs Arbeitgeber war, verengten die Augen des Autors sich noch etwas mehr, weil er sich fragte, was ein FBI-Agent hier zu suchen hatte.
Im Vergleich zum heutigen Morgen war Kellogg eher zwanglos gekleidet – er trug ein beige kariertes Sakko, eine dunkle Stoffhose und ein blaues Anzughemd. Keine Krawatte. Sein Verhalten wies ihn dennoch als typischen Bundesagenten aus, denn er blieb stets unverbindlich. Er verriet Nagle nur, dass er als Beobachter hier sei, um »auszuhelfen«.
Der Autor gab sein eigentümliches Kichern von sich, was zu besagen schien: Ich krieg dich schon noch zum Reden.
»Rebecca und Linda haben eingewilligt, uns zu helfen«, sagte Dance.
Er hob eine Augenbraue. »Wirklich? Und die andere, Samantha?«
»Nein, die nicht.«
Nagle zog drei Blatt Papier aus der Aktentasche
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