Die Menschenleserin
Susan Pemberton einen Termin zur Besprechung einer Jubiläumsfeier vereinbart. Er zog einen billigen Anzug an, den Jennie in einem Kaufhaus erstanden hatte, und traf sich mit der Veranstaltungsplanerin im Doubletree. Dort tat Daniel Pell dann, was er am besten konnte.
Oh, das hatte Spaß gemacht! Susan wie einen Fisch am Haken zappeln zu lassen, war ein großartiges Erlebnis gewesen, sogar noch besser, als Jennie beim Schneiden ihrer Haare zuzusehen, beim Wegwerfen ihrer Bluse oder beim Zusammenzucken, wenn ihr schmaler Hintern den Kleiderbügel zu spüren bekam.
Er ging in Gedanken noch einmal die verschiedenen Techniken durch: Man findet eine gemeinsame Angst (der entflohene Killer) und gemeinsame Vorlieben (John Steinbeck und Jazz; über beides wusste er nur wenig, aber er war ein guter Bluffer), man spielt das Geschlechterspiel (ihr Blick auf seinen leeren Ringfinger und ihr stoisches Lächeln, als er Kinder erwähnte, verrieten ihm alles über Susan Pembertons Liebesleben), man tut etwas Dummes und lacht darüber (der verschüttete Zimt), man ist ein anständiger Kerl (die Party für seine geliebten Eltern, sein ritterliches Angebot, Susan zum Wagen zu begleiten), man zerstreut einen etwaigen Verdacht (das vermeintliche Telefonat mit der Polizei).
Stück für Stück gewinnt man so das Vertrauen – und damit die Kontrolle.
Wie herrlich es doch war, diese Kunstgriffe endlich wieder in der echten Welt zu praktizieren.
Pell fand die Abzweigung. Sie führte durch ein dichtes Gehölz zum Meer. Jennie hatte am Samstag vor dem Ausbruch die Gegend für ihn erkundet und dabei diesen abgelegenen Fleck entdeckt. Pell folgte der halb von Sand verwehten Straße. Ein Schild besagte, dies sei ein Privatgelände. Am Ende des Weges stellte er Susans Wagen am Strand ab, deutlich außer Sichtweite des Highways. Er stieg aus und hörte, wie die Wellen sich ein Stück weiter an einem alten Pier brachen. Die Sonne stand tief und bot einen spektakulären Anblick.
Er musste nicht lange warten. Jennie war zu früh dran. Das freute ihn; wenn jemand überpünktlich ist, hat man ihn unter Kontrolle. Sobald jemand zu spät kommt, muss man ihn im Auge behalten.
Sie parkte, stieg aus und ging zu ihm. »Schatz, ich hoffe, du musstest nicht lange warten.« Sie küsste ihn gierig und nahm dabei sein Gesicht in beide Hände. Beinahe verzweifelt.
Pell schnappte nach Luft.
Sie lachte. »Es fällt schwer, sich an dein neues Aussehen zu gewöhnen. Ich meine, mir war klar, dass du es bist, aber ich habe trotzdem zweimal hingeschaut, du weißt schon. Aber es ist wie bei mir und meinem kurzen Haar – es wird nachwachsen, und du wirst wieder weiß sein.«
»Komm her.« Er nahm ihre Hand, setzte sich auf eine flache Düne und zog sie zu sich herunter.
»Brechen wir denn nicht auf?«, fragte sie.
»Noch nicht ganz.«
Sie nickte in Richtung des Lexus. »Wessen Wagen ist das? Ich dachte, dein Freund wollte dich hier absetzen.«
Er sagte nichts. Sie blickten nach Westen auf den Pazifischen Ozean. Die Sonne war eine blasse Scheibe dicht über dem Horizont und gewann von Minute zu Minute an Farbe.
Sie würde denken: Will er reden, will er mich ficken? Was ist hier los?
Unsicherheit... Pell ließ sie anwachsen. Jennie würde auffallen, dass er nicht lächelte.
Die Sorge kam wie eine Springflut über sie. Er spürte die Anspannung in ihrer Hand und ihrem Arm.
Schließlich fragte er: »Wie groß ist deine Liebe zu mir?«
Sie zögerte nicht, obwohl Pell eine gewisse Zurückhaltung in ihrer Antwort wahrnahm. »So groß wie die Sonne.«
»Von hier aus sieht sie eher klein aus.«
»Ich meine, so groß, wie die Sonne in Wahrheit ist.« Sie stockte kurz. »Nein, so groß wie das Universum «, fügte sie eilig hinzu, als wolle sie eine falsche Antwort im Unterricht korrigieren.
Pell blieb stumm.
»Was ist denn, Daniel?«
»Ich habe ein Problem. Und ich weiß nicht, wie ich es lösen soll.«
Sie spannte sich weiter an. »Ein Problem, mein Schatz?«
Demnach heißt es »Schatz«, wenn sie glücklich ist, und »mein Schatz«, wenn sie sich Sorgen macht. Er merkte es sich.
»Wegen dieses Termins, bei dem ich gewesen bin.« Er hatte ihr lediglich erzählt, er müsse sich wegen »etwas Geschäftlichem« mit jemandem treffen.
»Und was war da?«
»Es lief nicht so wie geplant. Ich hatte mir alles genau überlegt. Diese Frau sollte mir einen Haufen Geld zurückzahlen, den ich ihr geliehen hatte. Aber sie hat mich angelogen.«
»Was ist
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