Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
Vom Netzwerk:
führte bis nach San Francisco, wo er in die Van Ness Street mündete, eine ganz gewöhnliche Hauptstraße. Nun aber, hundertdreißig Kilometer nördlich von Monterey, bog Dance nach Westen ab und erreichte das weitläufige San Jose, das in »Do You Know the Way to San Jose?«, dem alten Lied von Burt Bacharach und Hal David, noch als eine Art Widerpart des selbstverliebten Los Angeles dagestanden hatte. Heutzutage besaß San Jose dank des Silicon Valley selbstverständlich ein eigenes Ego von beträchtlichen Ausmaßen.
    Die Wegbeschreibung führte Dance durch ein Labyrinth großer Wohnsiedlungen bis zu einer Gegend, die aus fast identischen Häusern bestand; falls die symmetrisch angeordneten Bäume als Schösslinge eingepflanzt worden waren, musste das Viertel ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein. Bescheiden, unauffällig, klein – trotzdem würde jedes der Gebäude sich für deutlich mehr als eine Million Dollar verkaufen lassen.
    Dance fand die gesuchte Adresse, fuhr daran vorbei und parkte einen Block weiter auf der anderen Straßenseite. Dann kehrte sie zu Fuß zu dem Haus zurück, in dessen Auffahrt ein roter Jeep und ein dunkelblauer Acura standen. Auf dem Rasen lag ein großes Plastikdreirad. Drinnen sah Dance Licht. Sie ging zur vorderen Veranda. Klingelte. Für den Fall, dass Samantha McCoys Mann oder ein Kind die Tür öffnen sollte, hatte Dance sich eine Geschichte zurechtgelegt. Es schien unwahrscheinlich, dass die Frau ihre Vergangenheit vor dem eigenen Ehemann geheim gehalten hatte, aber Dance würde vorsichtshalber davon ausgehen. Sie war auf die Mitwirkung der Frau angewiesen und wollte sie nicht vor den Kopf stoßen.
    Die Tür ging auf, und Dance sah eine schlanke Frau mit schmalem, hübschem Gesicht vor sich, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Cate Blanchett besaß. Sie trug eine modische Brille mit blauem Gestell und hatte lockiges braunes Haar. Sie stand im Eingang, reckte den Kopf vor und hielt mit knochiger Hand den Türknauf umklammert.
    »Ja?«
    »Mrs. Starkey?«
    »Die bin ich.« Das Gesicht unterschied sich sehr von dem der Samantha McCoy auf den acht Jahre alten Fotos; sie hatte sich einer umfassenden kosmetischen Operation unterzogen. Aber ihr Blick verriet Dance sofort, dass hier eindeutig keine Verwechslung vorlag: erst ein jähes Erschrecken, dann Bestürzung.
    »Ich bin Kathryn Dance«, sagte sie leise und zeigte diskret ihre Legitimation vor. »California Bureau of Investigation.« Die Augen der Frau huschten so schnell über den Ausweis, dass sie unmöglich auch nur ein Wort davon gelesen haben konnte.
    »Wer ist das, Liebling?«, rief eine Männerstimme von drinnen.
    Samantha sah Dance direkt ins Gesicht. »Die Frau aus der Nachbarschaft, von der ich dir erzählt habe. Ich hab sie bei Safeway getroffen; sie wohnt ein Stück die Straße hinauf.«
    Womit die Frage beantwortet war, wie geheim sie ihre Vergangenheit hielt.
    Geschickt, dachte Dance. Gute Lügner haben stets glaubhafte Ausreden parat, und sie kennen die Person, die sie anlügen. Samanthas Antwort verriet Dance, dass der Ehemann sich nicht besonders gut an beiläufige Unterhaltungen erinnerte und dass Samantha sich auf alle möglichen Situationen vorbereitet hatte, die eine Ausflucht erfordern könnten.
    Die Frau kam nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Gemeinsam gingen sie ein paar Schritte in Richtung Straße. Ohne den dämpfenden Filter der Fliegengittertür konnte Dance nun erkennen, wie verstört die Frau aussah. Ihre Augen waren rot und von dunklen Ringen umgeben, die Gesichtshaut trocken und die Lippen rissig. Einer ihrer Fingernägel war abgebrochen. Offenbar hatte sie nicht geschlafen. Dance verstand, weshalb sie heute »von zu Hause aus« arbeitete.
    Ein Blick zurück zum Haus. Dann drehte sie sich zu Dance um. »Ich hatte nichts damit zu tun, ich schwöre«, flüsterte sie flehentlich. »Ich habe gehört, dass eine Frau ihm geholfen hat, das kam in den Nachrichten, aber...«
    »Nein, nein, deswegen bin ich nicht hier. Ich habe sie überprüft. Sie arbeiten bei dem Verlag auf der Figueroa. Sie waren gestern den ganzen Tag da.«
    Angst. »Haben Sie etwa...«
    »Niemand weiß etwas davon. Ich habe behauptet, ich wolle ein Päckchen abliefern.«
    »Ach, das... Toni hat erzählt, jemand habe etwas liefern wollen und nach mir gefragt. Sie waren das.« Die Frau rieb sich das Gesicht und verschränkte die Arme. Abweisende Gesten. Sie stand unter ungeheurem Stress.
    »War das eben Ihr

Weitere Kostenlose Bücher