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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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und legte sie auf den Tisch. »Mein Mini-Opus, sofern das kein Widerspruch in sich ist. Eine kurze Geschichte des Daniel Pell.«
    Kellogg stellte seinen Stuhl neben den von Dance. Anders als bei O’Neil konnte sie an ihm kein Rasierwasser riechen.
    Der Autor wiederholte, was er am Vortag zu Dance gesagt hatte: Sein Buch drehe sich nicht um Pell, sondern um dessen Opfer. »Ich sehe mir jeden an, der vom Tod der Croytons betroffen war. Sogar die Angestellten. Croytons Firma wurde später von einem großen Softwarekonzern aufgekauft, Hunderte von Leuten wurden entlassen. Vielleicht wäre es ohne Croytons Tod nicht dazu gekommen. Und was ist mit seinem Berufsstand? Auch dafür war er ein großer Verlust. Er zählte zu den innovativsten Entwicklern des ganzen Silicon Valley und besaß das Urheberrecht an Dutzenden von Programmen und Computerbauteilen, die ihrer Zeit weit voraus gewesen sind. Viele davon waren so fortgeschritten, dass es für sie damals noch gar keine Anwendungsmöglichkeiten gab. Nun ist das alles hinfällig. Womöglich hätten manche seiner Erfindungen zu bahnbrechenden Erfolgen in Medizin, Wissenschaft oder Nachrichtentechnik geführt.«
    Dance erinnerte sich daran, dass sie das Gleiche gedacht hatte, als sie am Campus der Universität vorbeigefahren war, die einen Großteil von Croytons Werk geerbt hatte.
    Nagle wies auf seine Aufzeichnungen und fuhr fort. »Dies ist die wahre Geschichte von Daniel Pell, so weit ich sie zusammenstückeln konnte. Es ist interessant – Pell verändert seine Biographie, je nachdem, mit wem er redet. Nehmen wir an, er will eine Verbindung zu jemandem aufbauen, dessen Eltern früh verstorben sind. Tja, zu solchen Leuten sagt Pell, er sei mit zehn Jahren bereits Waise geworden. Und wenn er jemanden ausnutzen möchte, dessen Vater beim Militär gewesen ist, macht er sich zum Sohn eines Soldaten, der im Kampf getötet wurde. Legt man seine eigenen Aussagen zugrunde, gibt es ungefähr zwanzig verschiedene Pells. Nun, hier ist die Wahrheit:
    Er wurde im Oktober 1963 geboren. Am siebten. Aber er erzählt allen, sein Geburtstag sei der zweiundzwanzigste November. An dem Tag wurde Kennedy von Lee Harvey Oswald erschossen.«
    »Er hat einen Präsidentenmörder bewundert?«, fragte Kellogg.
    »Nein, offenbar war Oswald für ihn ein Verlierer. Er hat ihn für zu labil und unbedarft gehalten. Was er bewundert hat, war die Tatsache, dass ein einzelner Mann mit einer einzigen Tat dermaßen viel bewirken konnte. Er hat all diese Leute zum Weinen gebracht und die Geschicke eines ganzen Landes verändert, wenn nicht sogar der ganzen Welt.
    Nun, Daniel hatte als Kind kein schlechtes Leben. Joseph Pell, sein Vater, war Handelsvertreter und seine Mutter war Sprechstundenhilfe – solange sie arbeiten ging. Eine Mittelstandsfamilie. Die Mutter – Elizabeth – hat viel getrunken, also bestand zu ihrem Sohn wahrscheinlich ein eher kühles Verhältnis, aber es fand kein Missbrauch statt, und er wurde auch nicht in seinem Zimmer eingesperrt. Sie starb an Leberzirrhose, als Daniel ein Teenager war. Nach dem Tod der Frau gab der Vater sich Mühe, den Jungen zu erziehen, aber Daniel konnte keine andere Autoritätsperson anerkennen. Mit denen ist er im Leben generell nicht zurechtgekommen – mit Lehrern, Vorgesetzten und vor allem mit seinem Vater.«
    Dance erwähnte das Verhör, das sie und Michael O’Neil sich angesehen hatten, die Behauptung, Pells Vater habe Miete verlangt, ihn geschlagen und die Familie verlassen, woraufhin beide Eltern gestorben seien.
    »Alles gelogen«, sagte Nagle. »Aber sein Vater war zweifellos kein einfacher Umgang für Pell. Der Mann war religiös – sehr religiös, sehr streng. Er war sogar ein geweihter Geistlicher – von irgendeiner konservativen Presbyterianerkirche in Bakersfield -, hat aber nie eine eigene Gemeinde bekommen. Bis zum stellvertretenden Pfarrer hatte er es schon geschafft, doch letztlich wurde er entlassen. Es gab viele Beschwerden, er sei zu intolerant und würde vorschnell über die Gemeindemitglieder urteilen. Er wollte eine eigene Kirche gründen, aber die presbyterianische Synode hat sich geweigert, auch nur mit ihm zu sprechen, also verkaufte er am Ende religiöse Bücher und Devotionalien und ähnliches Zeug. Wir können wohl davon ausgehen, dass er seinem Sohn das Leben schwergemacht hat. Ich schätze, die Alkoholsucht seiner Frau dürfte auch etwas mit ihrem Mann zu tun gehabt haben.«
    Religion spielte keine große Rolle in Dances

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