Die Menschenleserin
Leben. Sie, Wes und Maggie feierten Ostern und Weihnachten, wenngleich die wesentlichen Symbole dieser Feste ein Hase und ein vergnügter Opa in einem roten Kostüm waren, und sie brachte den Kindern eigene moralische Prinzipien bei – triftige, unumstrittene Grundsätze, wie sie die meisten großen Religionsgemeinschaften gemeinsam hatten. Davon abgesehen übte Dance ihren Beruf lange genug aus, um zu wissen, dass die Religion für Straftaten oft von Bedeutung war. Nicht nur bei vorsätzlichen Terroranschlägen, sondern auch bei viel profaneren Zwischenfällen. Im nahen Marina hatten Dance und Michael O’Neil fast zehn Stunden in einer engen Garage gehockt und mit einem fundamentalistischen Pfarrer verhandelt, der seine Frau und die Tochter im Namen Jesu töten wollte, weil das halbwüchsige Mädchen schwanger war. (Es war ihnen gelungen, die Familie zu retten, aber Dance hatte einen beunruhigenden Eindruck davon zurückbehalten, wie gefährlich religiöse Rechtschaffenheit sein kann.)
»Pells Vater hat sich zur Ruhe gesetzt, ist nach Phoenix gezogen und hat wieder geheiratet«, fuhr Nagle fort. »Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben und Joseph letztes Jahr, an einem Herzinfarkt. Pell hatte anscheinend nie Kontakt zu ihm aufgenommen. Geschwister der Eltern gibt es keine, abgesehen von der Tante in Bakersfield.«
»Die Tante mit Alzheimer?«
»Ja. Aber Pell hat einen Bruder.«
Entgegen seiner Behauptung war er also kein Einzelkind.
»Der Bruder ist älter als er und schon vor Jahren nach London gezogen. Er arbeitet als Verkaufsleiter einer amerikanischen Imund Exportfirma und gibt keine Interviews. Ich kenne lediglich seinen Namen. Richard Pell.«
»Ich lasse ihn überprüfen«, sagte Dance zu Kellogg.
»Gibt es Cousins?«, fragte der FBI-Agent.
»Die Tante war nie verheiratet.«
Nagle klopfte auf die von ihm verfasste Biographie und kicherte. »Also, gegen Ende seiner Teenagerzeit ist Pell mehrmals in der Jugendstrafanstalt gelandet – hauptsächlich wegen Diebstahlsdelikten. Aber er hat dabei nie Gewalt angewendet. Laut seinem frühen Strafregister war er überraschend friedfertig. Es gab weder Straßenschlägereien noch andere gewaltsame Übergriffe, und nichts deutet darauf hin, dass er je in Wut geraten ist. Einer der Ermittlungsbeamten schrieb, seiner Ansicht nach würde Pell jemandem nur dann wehtun, wenn es ihm taktisch gelegen käme, und dass er Gewalt weder verabscheute noch Gefallen daran fand. Sie war ein Werkzeug.« Der Autor blickte auf. »Was, wenn Sie mich fragen, beängstigender ist.«
Dance dachte an ihre eigene Einschätzung, dass Pell ungerührt tötete, wann immer es ihm zweckmäßig erschien.
»Von Drogen ebenfalls keine Spur«, sagte Nagle. »Wie es aussieht, hat Pell nie welche genommen. Und er trinkt keinen Alkohol, zumindest tat er es damals nicht.«
»Was ist mit seiner Ausbildung?«
»Das ist ein interessantes Thema. Er ist brillant. Seine Tests in der Highschool waren überdurchschnittlich gut. In den freiwilligen Zusatzfächern bekam er nur Einser, aber sobald irgendwo Anwesenheitspflicht bestand, hat er geschwänzt. Im Gefängnis hat er sich dann umfassende juristische Kenntnisse angeeignet und im Fall Croyton selbstständig Revision eingelegt.«
Dance erinnerte sich daran, dass er während des Verhörs angemerkt hatte, er sei mit den Strafrechtsbestimmungen vertraut.
»Und er hat die Sache den ganzen Weg bis zum obersten Gericht Kaliforniens durchgefochten – erst letztes Jahr wurde dort gegen ihn entschieden. Das war offenbar ein schwerer Schlag für ihn. Er hatte fest damit gerechnet, er würde freikommen.«
»Tja, er mag ja schlau sein, aber nicht schlau genug, um nicht in den Knast zu kommen.« Kellogg wies auf einen Absatz der Biographie, in dem von etwa fünfundsiebzig Verhaftungen die Rede war. » Das nenne ich ein Strafregister.«
»Und es ist nur die Spitze des Eisbergs; normalerweise hat Pell andere Leute dazu veranlasst, die Verbrechen zu begehen. Es dürfte Hunderte von Delikten geben, hinter denen er gesteckt hat, aber für die jemand anderer geschnappt wurde. Raubüberfälle, Einbrüche, Laden-und Taschendiebstähle. So hat er sich finanziert: indem die Leute in seinem Umfeld sich die Hände für ihn schmutzig machen mussten.«
»Oliver«, sagte Kellogg.
»Wie bitte?«
»Charles Dickens. Oliver Twist ... Haben Sie das mal gelesen?«
»Ich hab den Film gesehen«, sagte Dance.
»Da ist es ganz ähnlich. Fagin, der Kerl, der die Bande von
Weitere Kostenlose Bücher