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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unten. Wohl aber sah sie, dass mit einem Mal die Spiegelung des Himmels in der Tiefe in Bewegung geriet; wahrscheinlich war der Eimer jetzt ins Wasser getaucht. Seltsam war nur, dass sie kein Nachlassen des Zuges spürte und auch das Schaben an der Steinwand unverändert ertönte. Wenn nicht der Eimer die Oberfläche aufgewühlt hatte, was dann?
    Sie hatte sich die Frage kaum gestellt, als dort unten etwas auftauchte. Ein Kopf. Er war zu weit entfernt, als dass sie Einzelheiten hätte ausmachen können, und doch war sie sicher, dass dunkle Augen zu ihr emporblickten.
    Vor Schreck ließ Merle das Seil los und machte einen Schritt zurück. Der Strick sauste über die Mauerbrüstung in die Tiefe. Er wäre samt Eimer verloren gegangen, hätte nicht unverhofft eine Hand danach gegriffen.
    Unkes Hand.
    Merle hatte nicht bemerkt, dass die Haushälterin zu ihr auf den Hof getreten war. Unke hatte das Seilende gerade noch zu fassen bekommen und zog den Eimer jetzt herauf ans Tageslicht.
    »Danke«, stammelte Merle. »Das war ungeschickt von mir.«
    »Was hast du gesehen?«, fragte Unke unter ihrer Halbmaske.
    »Nichts.«
    »Lüg mich bitte nicht an.«
    Merle zögerte. Noch immer war Unke damit beschäftigt, den Eimer heraufzuziehen. Instinktiv schoss Merle der Gedanke durch den Kopf, sich herumzuwerfen und davonzulaufen. Das hätte sie noch vor wenigen Wochen im Waisenhaus gemacht. Hier jedoch widerstrebte es ihr, klein beizugeben. Sie hatte nichts Falsches oder Verbotenes getan.
    »Da unten war irgendetwas.«
    »So?«
    »Ein Gesicht.«
    Die Haushälterin zog den vollen Eimer über die Brüstung und stellte ihn auf der Mauer ab. Wasser schwappte über den Rand und lief an den Fratzen der Steinreliefs herab.
    »Ein Gesicht also. Und du bist ganz sicher?« Nach einem Seufzer beantwortete Unke sich die Frage selbst: »Natürlich bist du das.«
    »Ich hab’s gesehen.« Merle wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Die Haushälterin war ihr unheimlich, dennoch verspürte sie keine echte Angst vor ihr. Eher eine Art Unbehagen bei der Art und Weise, wie sie über den Rand ihrer Maske blickte und aus jeder Regung, jedem noch so kleinen Zögern Merles Gedanken zu lesen schien.
    »Du hast schon einmal etwas gesehen, oder?« Unke lehnte sich gegen die Brunnenmauer. »Neulich Nacht, zum Beispiel.«
    Es hatte keinen Sinn zu leugnen. »Ich hab das Geräusch des Deckels gehört. Und da habe ich gesehen, wie Sie in die Zisterne geklettert sind.«
    »Hast du irgendwem davon erzählt?«
    »Nein«, log sie, um Junipa nicht in die Sache hineinzuziehen.
    Unke fuhr sich über das Haar und seufzte tief. »Merle, ich muss dir einige Dinge erklären.«
    »Wenn Sie das wollen.«
    »Du bist nicht wie die übrigen Lehrlinge«, sagte die Haushälterin. War da ein Lächeln in ihren Augen? »Nicht wie Dario. Du kannst mit der Wahrheit umgehen.«
    Merle trat näher an Unke heran, bis sie nur noch ihren Arm hätte auszustrecken brauchen, um die weiße Maske mit den roten Lippen zu berühren. »Sie wollen mir ein Geheimnis anvertrauen?«
    »Wenn du bereit dazu bist.«
    »Sie kennen mich doch überhaupt nicht.«
    »Vielleicht besser, als du denkst.«
    Merle verstand nicht, was Unke damit meinte. Ihre Neugier war jetzt geweckt, und sie fragte sich, ob nicht genau das in Unkes Absicht lag. Je interessierter Merle war, umso tiefer sie selbst in die Sache hineingezogen wurde, desto eher konnte Unke ihr vertrauen.
    »Komm mit«, sagte die Haushälterin und ging vom Brunnen zur Hintertür eines leer stehenden Hauses. Der Eingang war nicht verschlossen, und nachdem Unke die Tür aufgestoßen hatte, gelangten sie in einen schmalen Korridor. Augenscheinlich war es der einstige Dienstbotenzugang des Palazzos.
    Sie kamen an einer verlassenen Küche und an leeren Vorratsräumen vorüber, bis sie zu einer kurzen Treppe gelangten, die abwärts führte - ungewöhnlich in einer Stadt, deren Häuser auf Pfählen erbaut und nur selten unterkellert waren.
    Wenig später erkannte Merle, dass Unke sie an eine unterirdische Bootsanlegestelle geführt hatte. Neben einem Wasserarm, der zu beiden Seiten in halbrunden Tunneln verschwand, spannte sich ein Gehweg. Von hier aus waren einst Güter auf Boote verladen worden. Es roch brackig, die Luft schmeckte nach Algen und Schimmel.
    »Warum gehen Sie nicht auf diesem Weg ins Wasser?«, fragte Merle.
    »Wie meinst du das?«
    »Sie klettern in den Brunnen, weil Sie durch ihn irgendwohin gelangen. Natürlich könnte im Schacht

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