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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zwischen ihm und Umberto gewesen, der dieses ganze Durcheinander verursacht hatte.
    Früher oder später wäre es ohnehin zum Bruch zwischen ihr und Dario gekommen, das hatte sie gleich am ersten Tag gespürt. Sie ahnte, dass auch Arcimboldo es vorhergesehen hatte. Bedauerte er, sie aus dem Waisenhaus geholt zu haben? Musste sie nun wieder zurück in den Schmutz und in die Armut?
    Trotz ihrer Befürchtungen plagten sie keine Schuldgefühle. Dario war ein jämmerlicher Feigling, das hatte er gleich zweimal unter Beweis gestellt: einmal, als er mit dem Messer auf Serafin losgegangen war, und zum zweiten Mal, als er sich hinter der wehrlosen Junipa verschanzt hatte. Er hatte seine Ohrfeige redlich verdient und, wenn es nach ihr ginge, eine tüchtige Tracht Prügel gleich hinterher.
    Offenbar sah Arcimboldo das ganz ähnlich. »Dario«, sagte er, »für dein unwürdiges und unangemessenes Verhalten wirst du allein die Werkstatt putzen. Ich will morgen früh keinen einzigen Farbklecks mehr finden. Verstanden?«
    »Und was ist mit ihr?«, maulte Dario und zeigte wutentbrannt auf Merle.
    »Ob du mich verstanden hast?«, fragte Arcimboldo noch einmal, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen wie zwei Gewitterwolken.
    Dario senkte den Kopf, auch wenn Merle nicht entging, dass er sie insgeheim hasserfüllt anstarrte. »Ja, Meister.«
    »Dario wird eine Menge Wasser brauchen. Deshalb wirst du, Merle, zehn Eimer voll aus der Zisterne holen, die Treppen hinauftragen und in die Werkstatt bringen. Das soll deine Strafe sein.«
    »Aber, Meister -«, fuhr Dario auf.
    Arcimboldo unterbrach ihn. »Mit deinem Verhalten hast du uns alle beschämt, Dario. Ich weiß, du bist aufbrausend und jähzornig, aber du bist auch mein bester Schüler, deshalb will ich es damit gut sein lassen. Was Merle angeht, so ist sie gerade zwei Wochen hier und muss sich erst daran gewöhnen, dass hier ein Zwist, anders als im Waisenhaus, nicht mit den Fäusten ausgetragen wird. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
    Beide verbeugten sich und sagten im Chor: »Ja, Meister.«
    »Irgendwelche Einwände?«
    »Nein, Meister.«
    »So sei es.« Mit einem Wink gab er ihnen zu verstehen, dass sie sich entfernen durften.
    Vor der Tür der Bibliothek wechselten Merle und Dario einen finsteren Blick, dann wandte sich jeder der ihm zugewiesenen Aufgabe zu. Während Dario sich anschickte, die Überreste der Farbattacke in der Werkstatt zu beseitigen, lief Merle hinab in den Hof. Neben dem Hintereingang standen ein Dutzend Eimer aus Holz aufgereiht. Sie ergriff den ersten und ging zur Zisterne.
    Seltsame Wesen aus Stein waren in die Ummauerung des Brunnens eingelassen, phantastische Kreaturen mit Katzenaugen, Medusenhäuptern und Reptilienschwänzen. Sie waren in einer erstarrten Prozession rund um die Zisterne aufgereiht. An ihrer Spitze ging ein Geschöpf, halb Mensch, halb Hai, mit Armen, deren Ellbogen in die falsche Richtung wiesen; in den Händen trug es den Kopf eines Menschen.
    Der Metalldeckel war schwer. Nur unter Ächzen und Stöhnen gelang es Merle, ihn zu öffnen. Darunter war nichts als Schwärze. Erst tief, tief unten sah sie einen Schimmer von Licht, die Spiegelung des Himmels über dem Hof.
    Sie drehte sich um und schaute nach oben. Der Anblick unterschied sich nur wenig vom Inneren der Zisterne: Um den Hof wuchsen die Mauern der alten Häuser wie Wände empor. Vielleicht befand sich das Wasser gar nicht so tief unten, wie sie angenommen hatte. Vielmehr wurde die Höhe des Hofes reflektiert und schien so den Brunnenschacht um mehr als das Doppelte zu verlängern. Es würde weniger Mühe kosten, bis zur Oberfläche hinabzuklettern, als Merle bisher geglaubt hatte - zumal sie nun Griffe aus Metall erkennen konnte, die an der Innenseite des Brunnens in den Abgrund führten. Was war es wohl, das Unke immer wieder dorthinunter trieb?
    Merle band den Eimer an ein langes Seil, das neben der Zisterne bereit lag, und ließ ihn hinab. Das Holz schabte über die steinerne Brunnenwand. Das Geräusch hallte in der Tiefe wider und drang verzerrt herauf ans Tageslicht. Außer Merle hielt sich niemand im Hof auf. Das Schaben des Eimers wurde von den Fassaden der umstehenden Häuser zurückgeworfen, und jetzt klang es fast wie ein Flüstern, das aus den Fenstermäulern der Gebäude herabraunte. Die Stimmen all jener, die längst nicht mehr hier lebten. Geisterwispern.
    Merle konnte nicht erkennen, wann der Eimer die Oberfläche erreichte. Es war zu dunkel dort

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