Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
ich niemandem vom Friedhof der Meerjungfrauen erzählen werde.«
»Den Eid als Berührte«, forderte Unke.
»Ich, Merle, die von der Fließenden Königin berührt wurde, leiste diesen Eid.«
Unke nickte zufrieden, und Merle atmete erleichtert auf.
Der Rumpf der Gondel schabte über etwas hinweg, das unter der Wasseroberfläche lag.
»Noch mehr Knochen«, erklärte Unke. »Tausende.« Sie wendete die Gondel und ruderte zurück in Richtung Tunnelausgang.
»Unke?«
»Hm?«
»Du glaubst wirklich, dass ich etwas Besonderes bin, ja?«
Die Meerjungfrau lächelte rätselhaft. »Das bist du gewiss. Etwas ganz Besonderes.«
Viel später, im Dunkeln, im Bett, schob Merle unter der Bettdecke den Arm in den Wasserspiegel, genoss die wohlige Wärme und tastete nach der Hand auf der anderen Seite. Es dauerte eine Weile, aber dann berührte etwas ihre Finger, ganz sanft, ganz vertraut. Merle seufzte leise und fiel in einen unruhigen Halbschlaf.
Vor dem Fenster ging der Abendstern auf. Sein Funkeln brach sich in Junipas offenen Spiegelaugen, die kalt und gläsern durch das dunkle Zimmer herüberstarrten.
Der Verrat
»Hast du jemals hineingeschaut?«, fragte Junipa am Morgen, nachdem Unkes Gongschläge auf dem Flur sie geweckt hatten.
Merle rieb sich mit den Knöcheln ihrer Zeigefinger den Schlaf aus den Augen. »Wohinein?«
»In deinen Wasserspiegel.«
»Na klar. Ständig.«
Junipa schwang ihre Beine über die Bettkante und sah Merle an. Die Spiegelscherben loderten golden vom Sonnenaufgang hinter den Dächern.
»Ich meine, nicht einfach nur reingeschaut.«
»Hinter die Wasseroberfläche?«
Junipa nickte. »Hast du?«
»Zwei- oder dreimal«, sagte Merle. »Ich hab mein Gesicht so weit wie möglich hineingedrückt. Der Rahmen ist ziemlich eng, aber es hat geklappt. Meine Augen waren unter Wasser.«
»Und?«
»Nichts. Nur Dunkelheit.«
»Du konntest gar nichts sehen?«
»Das sag ich doch.«
Nachdenklich strich sich Junipa mit den Fingern durchs Haar. »Wenn du willst, versuche ich es.«
Merle, die gerade gähnen wollte, klappte den Mund wieder zu. »Du?«
»Mit den Spiegelaugen kann ich im Dunkeln sehen.«
Merle hob die Augenbrauen. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.« Hastig überlegte sie, ob sie bei Nacht etwas getan hatte, dessen sie sich schämen müsste.
»Es hat erst vor drei Tagen angefangen. Aber jetzt wird es von Nacht zu Nacht stärker. Ich sehe wie bei Tageslicht. Manchmal kann ich nicht schlafen, weil die Helligkeit sogar durch meine Augenlider dringt. Alles wird dann ganz rot, so als blickte man mit geschlossenen Augen in die grelle Sonne.«
»Du musst mit Arcimboldo darüber reden.«
Junipa schaute unglücklich drein. »Und wenn er mir dann die Spiegel wieder rausnimmt?«
»Das würde er nie tun.« Besorgt versuchte Merle sich vorzustellen, wie es wohl war, wenn man Tag und Nacht von Licht umgeben war. Was, wenn es schlimmer wurde? Konnte Junipa dann überhaupt noch schlafen?
»Also«, wechselte Junipa rasch das Thema, »was ist nun? Soll ich es versuchen?«
Merle zog den Handspiegel unter ihrer Bettdecke hervor, wog ihn einen Moment lang in der Hand, dann zuckte sie mit den Schultern. »Warum nicht?«
Junipa kletterte zu ihr aufs Bett. Sie setzten sich im Schneidersitz einander gegenüber. Ihre Nachthemden spannten über ihren Knien, und beide hatten noch immer zerwühltes Haar von der Nacht.
»Lass es mich erst selbst versuchen«, sagte Merle.
Junipa sah zu, wie Merle den Spiegel ganz nah vor ihre Augen brachte. Vorsichtig tauchte sie ihre Nasenspitze hinein, dann - so weit wie möglich - den Rest ihres Gesichts. Bald stieß der Rahmen gegen ihre Wangenknochen. Tiefer hinein ging es nicht.
Unter Wasser öffnete Merle die Augen. Sie wusste, was sie erwartete, deshalb war sie nicht enttäuscht. Alles war wie immer. Nichts als Finsternis.
Sie löste den Spiegel von ihrem Gesicht. Das Wasser blieb im Rahmen haften, nicht die feinste Spur von Feuchtigkeit glänzte auf ihrer Haut.
»Und?«, fragte Junipa aufgeregt.
»Gar nichts.« Merle reichte ihr den Spiegel. »Wie gehabt.«
Junipa umschloss den Griff mit ihrer schmalen Hand. Sie blickte auf die spiegelnde Oberfläche und studierte ihre neuen Augen. »Findest du sie eigentlich schön?«, fragte sie unvermittelt.
Merle zögerte. »Ungewöhnlich.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Tut mir Leid.« Merle wünschte, Junipa hätte sich die Wahrheit erspart. »Manchmal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich dich
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