Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
die vertäut auf dem schwarzen Wasser lag. Sie sah aus, als schwebte sie im Nichts, so glatt und dunkel war rundum die Oberfläche.
»Dort hinein?«, fragte Merle.
Unke nickte.
»Und dann?«
»Ich will dir etwas zeigen.«
»Werden wir lange fort sein?«
»Höchstens eine Stunde.«
»Arcimboldo wird mich bestrafen. Er hat mir aufgetragen, die Eimer -«
»Schon erledigt.« Unke lächelte. »Er hat mir erzählt, was er mit euch vorhat. Ich habe zehn volle Eimer in der Werkstatt bereitgestellt.«
Merle war nicht überzeugt. »Und Dario?«
»Wird kein Wort darüber verlieren. Sonst erfährt Arcimboldo, wer nachts seinen Wein stibitzt.«
»Dann wissen Sie davon?«
»Nichts geschieht in diesem Haus, ohne dass ich davon weiß.«
Jetzt zögerte Merle nicht länger und folgte Unke in die Gondel. Die Meerjungfrau löste die Taue, stellte sich ins Heck des Bootes und steuerte es mit dem langen Ruder auf eine der beiden Tunnelöffnungen zu. Um sie herum wurde es stockdunkel.
»Keine Sorge«, sagte Unke. »Vor dir liegt eine Fackel. Daneben ist Zündzeug.«
Es dauerte nicht lange, da hatte Merle das Pech der Fackel in Brand gesteckt. Gelb und flackernd geisterte der Feuerschein über eine gewölbte Ziegeldecke.
»Darf ich Sie noch was fragen?«
»Du willst wissen, warum ich Beine habe und keinen Kalimar.«
»Kali - was?«
» Kalimar. So nennen wir in unserer Sprache den Schuppenschwanz.«
»Erzählen Sie es mir?«
Unke ließ die Gondel tiefer in die Finsternis des Tunnels gleiten. Modrige Mooslappen hatten sich von der Decke gelöst und hingen herab wie zerfranste Vorhänge. Es roch nach verfaultem Seetang und Verwesung.
»Das ist eine traurige Geschichte«, sagte Unke schließlich, »deshalb mache ich sie kurz.«
»Ich mag traurige Geschichten.«
»Kann sein, dass du selbst die Heldin in einer wirst.« Die Meerjungfrau wandte sich Merle zu und blickte sie an.
»Warum sagen Sie so etwas?«, wollte Merle wissen.
»Du bist von der Fließenden Königin berührt«, erwiderte Unke, als sei das Erklärung genug. Sie straffte sich und richtete ihren Blick wieder nach vorn. Ihre Züge wirkten ernst. »Einst wurde eine Meerjungfrau von einem Sturm an das Ufer einer Insel gespült. Sie war so geschwächt, dass sie hilflos zwischen den Binsen liegen blieb. Die Wolken rissen auf, die Sonne brannte vom Himmel herab, und der Leib der Meerjungfrau wurde trocken und spröde und begann zu sterben. Da aber tauchte ein junger Mann auf, der Sohn eines Händlers, der von seinem Vater den undankbaren Auftrag erhalten hatte, mit der Hand voll Fischern, die auf dem Eiland lebten, Handel zu treiben. Er hatte den ganzen Tag bei den armen Familien zugebracht, sie hatten mit ihm Wasser und Fisch geteilt, doch gekauft hatten sie nichts, denn sie besaßen kein Geld und nichts, gegen das sich zu tauschen lohnte. Bald war der junge Kaufmannssohn auf dem Rückweg zu seinem Boot, doch er wagte nicht, seinem Vater nach diesem Misserfolg gegenüberzutreten. Er fürchtete, gescholten zu werden, denn dies war nicht das erste Mal, dass er ohne Gewinn nach Venedig heimkehrte, und mehr noch fürchtete er um sein Erbe. Sein Vater war ein gestrenger, hartherziger Mann, der kein Verständnis für die Armut der Leute auf den äußeren Inseln hatte - eigentlich hatte er für nichts auf der Welt Verständnis, mit Ausnahme des Geldverdienens.
Der junge Mann schlenderte nun ziellos am Hafenufer entlang, um so seine Heimkehr hinauszuzögern. Als er gedankenverloren durch das Schilf und hohe Gras wanderte, stieß er auf die gestrandete Meerjungfrau. Er kniete neben ihr nieder, blickte in ihre Augen und verliebte sich auf der Stelle in sie. Er sah nicht den Schuppenschwanz unter ihren Hüften, sah auch nicht die Zähne, die jedem anderen Angst eingeflößt hätten. Er blickte nur in ihre Augen, die hilflos zu ihm aufschauten, und seine Entscheidung fiel auf der Stelle: Dies war die Frau, die er lieben und heiraten wollte. Er trug sie zurück ins Wasser, und während sie in den Wogen der Brandung allmählich zu Kräften kam, sprach er zu ihr über die Liebe. Je länger sie ihm zuhörte, desto mehr gefiel er ihr. Aus Gefallen wurde Zuneigung, und aus Zuneigung wurde mehr. Sie schworen sich, einander wieder zu sehen, und schon am nächsten Tag trafen sie sich am Ufer einer anderen Insel, und am Tag darauf wieder an dem einer anderen, und so ging es weiter.
Nach einigen Wochen nahm der junge Mann all seinen Mut zusammen und fragte, ob sie ihm nicht in die
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