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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Spiegelschemen.
    »Ich will euch heute etwas ganz Besonderes zeigen«, sagte er am Nachmittag. Merle bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Dario und die beiden anderen Jungen sich ansahen und grinsten.
    Der Spiegelmeister zeigte auf die Tür, die zum Lagerraum hinter der Werkstatt führte. »Ihr seid noch nie dort drinnen gewesen«, sagte er. »Und zwar aus gutem Grund.«
    Merle hatte angenommen, dass er um seine fertigen Zauberspiegel fürchtete, die dort aufbewahrt wurden.
    »Der Umgang mit Spiegeln, wie ich sie herstelle, ist nicht ganz ungefährlich.« Arcimboldo lehnte sich mit beiden Händen an eine Werkbank in seinem Rücken. »Hin und wieder muss man sie von gewissen« - er zögerte -, »von gewissen Elementen reinigen.«
    Wieder grinsten die drei Jungs, und Merle wurde langsam wütend. Sie hasste es, wenn Dario mehr wusste als sie.
    »Dario und die anderen bleiben hier in der Werkstatt«, sagte Arcimboldo. »Junipa und Merle, ihr kommt mit mir.«
    Damit wandte er sich um und ging zur Tür des Lagerraums. Merle und Junipa wechselten einen Blick, dann folgten sie ihm.
    »Viel Glück«, sagte Boro. Es klang aufrichtig.
    »Viel Glück«, äffte Dario ihn nach und murmelte etwas hinterher, das Merle nicht verstand.
    Arcimboldo ließ die Mädchen ein und schloss dann die Tür hinter ihnen. »Willkommen«, sagte er, »im Herzen meines Hauses.«
    Der Anblick, der sich ihnen bot, rechtfertigte die Feierlichkeit seiner Worte.
    Es war schwer zu sagen, wie groß der Raum war. Seine Wände waren über und über mit Spiegeln bedeckt, und Reihen von Spiegeln zogen sich auch durch seine Mitte, hintereinander aufgestellt wie Dominosteine kurz vor dem Umfallen. Durch ein gläsernes Dach schien Tageslicht herein - die Werkstatt befand sich in einem Anbau, der nicht annähernd so hoch war wie der Rest des Hauses.
    Die Spiegel waren mit Streben und Ketten gesichert, die in den Wänden verankert waren. Umstürzen würde hier nichts, es sei denn, ein Erdbeben suchte Venedig heim, oder die Hölle selbst täte sich unter der Stadt auf - so, wie sie es angeblich unter Marrakesch getan hatte, einer Stadt im Norden Afrikas. Aber das war vor über dreißig Jahren gewesen, gleich nach Ausbruch des Krieges. Heute redete niemand mehr über Marrakesch. Es war von den Landkarten und aus den Gesprächen der Menschen verschwunden.
    »Wie viele Spiegel sind es?«, fragte Junipa.
    Es war unmöglich, ihre Zahl zu schätzen, geschweige denn, sie zu zählen. Wieder und wieder reflektierten sie einander in ihren gläsernen Oberflächen, addierten und multiplizierten sich gegenseitig. Merle kam ein Gedanke: War ein Spiegel, der nur in einem Spiegel existierte, nicht ebenso real wie sein Original? Er erfüllte seine Aufgabe genauso gut wie sein Gegenstück - er spiegelte. Merle fiel nichts anderes sein, das dies vermochte: etwas zu tun, ohne selbst zu sein.
    Zum ersten Mal stellte sie sich die Frage, ob nicht alle Spiegel immer auch Zauberspiegel sind.
    Spiegel können sehen, hatte Arcimboldo gesagt. Jetzt glaubte sie ihm aufs Wort.
    »Ihr werdet nun eine ganz besondere Art von Quälgeistern kennen lernen«, erklärte er. »Meine speziellen Freunde - die Spiegelschemen.«
    »Was sind das… Spiegelschemen?« Junipa sprach leise, fast zaghaft, so als tanzten die Abbilder dessen, was sie hinter Merles Wasserspiegel gesehen hatte, noch immer vor ihren Augen und machten ihr Angst.
    Arcimboldo trat vor den ersten Spiegel der Mittelreihe. Er reichte ihm fast bis zum Kinn. Sein Rahmen war aus schlichtem Holz, wie die Rahmen aller Spiegel aus Arcimboldos Werkstatt. Sie dienten nicht zur Zier, sondern verhinderten, dass man sich beim Transport die Finger zerschnitt.
    »Schaut genau hin«, verlangte er.
    Die Mädchen traten an seine Seite und starrten auf den Spiegel. Junipa bemerkte es als Erste. »Da ist etwas im Glas.«
    Es sah aus wie Nebelfetzen, die blitzschnell über die Spiegelfläche trieben, formlos wie Gespenster. Und es gab keinen Zweifel, dass sich die blassen Umrisse unter dem Glas befanden, im Inneren der Spiegel.
    »Spiegelschemen«, sagte Arcimboldo sachlich. »Ärgerliche Parasiten, die sich von Zeit zu Zeit in meinen Spiegeln einnisten. Es ist die Aufgabe der Lehrlinge, sie einzufangen.«
    »Und wie sollen wir das machen?«, wollte Merle wissen.
    »Ihr werdet in die Spiegel eintreten und den Schemen mit einem kleinen Hilfsmittel, das ich euch mit auf den Weg gebe, den Garaus machen.« Er lachte laut auf. »Liebe Güte, schaut mich nicht so

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