Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Stadt folgen wolle. Sie aber wusste, wie es den Meerjungfrauen in der Stadt erging, und so sagte sie Nein. Er versprach ihr, sie zu seiner Frau zu machen, sodass sie an seiner Seite leben konnte wie ein Mensch. - , Schau mich an’, sagte sie,,ich werde nie wie ein Mensch sein.’ Darauf wurden beide sehr traurig, und der junge Mann sah ein, dass sein Plan nichts anderes als ein schöner Traum gewesen war.
In der darauf folgenden Nacht aber erinnerte sich die Meerjungfrau an die Legende von einer mächtigen Meerhexe, die weit draußen in der Adria in einer unterseeischen Höhle leben sollte. So schwamm sie hinaus, weiter, als sie oder eine ihrer Gefährtinnen je geschwommen waren, und sie fand die Meerhexe auf einer Klippe tief in der See sitzen und nach Ertrunkenen Ausschau halten. Denn Meerhexen, musst du wissen, schätzen totes Fleisch, und am besten schmeckt es ihnen, wenn es alt und aufgequollen ist. Die Meerjungfrau war unterwegs an einem gesunkenen Fischerboot vorbeigekommen, und so konnte sie der Hexe einen besonders saftigen Brocken als Tribut mitbringen. Das stimmte die Alte gnädig, sie hörte sich die Geschichte der Meerjungfrau an und beschloss, wohl noch berauscht vom Geschmack des Todes, ihr zu helfen. Sie sprach einen Zauber und befahl der Meerjungfrau, in die Lagune zurückzukehren. Dort sollte sie sich an ein Ufer der Stadt legen und schlafen, bis der Morgen graute. Dann, so versprach die Hexe, würde sie statt eines Schwanzes Beine besitzen.,Nur deinen Mund’, setzte sie hinzu,,den kann ich dir nicht nehmen, ohne dass du auf immer verstummst.’
Die Meerjungfrau maß ihrem Mund keine Bedeutung zu, denn schließlich war er Teil des Gesichts, in das sich der Kaufmannssohn verliebt hatte. So tat sie, was die Meerhexe ihr aufgetragen hatte.
Am Morgen des nächsten Tages wurde sie an einer Anlegestelle gefunden. Und tatsächlich: Sie hatte jetzt Beine, wo einst ihr Schuppenschwanz gewesen war. Die Männer aber, die sie fanden, bekreuzigten sich, sprachen von Teufelswerk und schlugen sie, denn sie hatten sie an ihrem Mund als das erkannt, was sie in Wirklichkeit war. Die Männer waren überzeugt, die Meerjungfrauen hätten einen Weg gefunden, zu Menschen zu werden, und fürchteten, dass sie bald schon über die Stadt herfallen, alle Menschen ermorden und ihre Reichtümer stehlen würden.
Was für eine Torheit! Als hätte einer einzigen Meerjungfrau jemals etwas am Reichtum der Menschen gelegen!
Während die Männer sie schlugen und traten, flüsterte die Meerjungfrau immer wieder den Namen ihres Geliebten, und so wurde denn bald nach ihm gerufen. Er eilte herbei, und zwar in Begleitung seines Vaters, der eine Verschwörung gegen sich und sein Haus vermutete. Die Meerjungfrau und der junge Mann wurden einander gegenübergestellt, und beide sahen einander lange und tief in die Augen. Der junge Mann weinte, und auch die Meerjungfrau vergoss Tränen, die sich mit dem Blut auf ihren Wangen mischten. Dann aber wandte ihr Geliebter sich ab, denn er war schwach und fürchtete den Zorn seines Vaters. Jen kenne sie nicht’, verleugnete er sie. Jen habe nichts mit dieser Missgeburt zu schaffen.’
Die Meerjungfrau wurde sehr still und sagte nichts mehr, schwieg auch, als man sie noch heftiger prügelte, und selbst dann blieb sie stumm, als der Kaufmann und sein Sohn ihr mit den Stiefeln ins Gesicht und in die Rippen traten. Später warf man sie zurück ins Wasser wie einen toten Fisch, und dafür hielten sie auch alle: für tot.«
Unke verstummte und hielt einen Moment lang das Ruder starr in den Händen, ohne es ins Wasser zu tauchen. Das Fackellicht glänzte auf ihren Wangen, und eine einzelne Träne rann über ihr Gesicht. Sie erzählte nicht die Geschichte irgendeiner Meerjungfrau, sie erzählte ihre eigene.
»Ein Kind fand sie, ein Lehrjunge in einer Spiegelwerkstatt, den sein Meister einst aus einem Waisenhaus geholt hatte. Er nahm sich ihrer an, versteckte sie, gab ihr Essen und Trinken und machte ihr immer dann neuen Mut, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Der Name dieses Jungen war Arcimboldo, und die Meerjungfrau schwor sich aus Dankbarkeit, ihm ihr Leben lang zu folgen. Meerjungfrauen leben sehr viel länger als ihr Menschen, deshalb ist der Junge heute ein alter Mann und die Meerjungfrau noch immer jung. Sie wird noch jung sein, wenn er stirbt, und dann wird sie erneut ganz allein sein, eine Einsame zwischen zwei Welten, keine Meerjungfrau mehr und auch kein Mensch.«
Als Merle zu
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