Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
entgeistert an! Dario und die anderen haben das schon unzählige Male getan. Es mag euch ein wenig ungewöhnlich erscheinen, aber im Grunde ist es nicht besonders schwer. Nur lästig. Deshalb dürft ihr Lehrlinge das erledigen, während euer alter Meister die Füße auf den Tisch legt, eine leckere Pfeife raucht und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt.«
Merle und Junipa wechselten einen Blick. Beide waren verunsichert, doch sie waren auch entschlossen, diese Angelegenheit mit Würde hinter sich zu bringen. Immerhin: Wenn Dario es fertig gebracht hatte, würden sie es wohl auch schaffen.
Arcimboldo zog etwas aus einer Tasche seines Kittels. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er es den Mädchen vor die Nasen. Eine durchsichtige Glaskugel, nicht größer als Merles Faust.
»Ziemlich unscheinbar, nicht wahr?« Arcimboldo grinste, und Merle fiel zum ersten Mal auf, dass er eine Zahnlücke hatte. »Aber tatsächlich ist es die beste Waffe gegen die Spiegelschemen. Leider auch die einzige.«
Er verstummte für einen Moment, aber niemand stellte Fragen. Merle war sicher, dass Arcimboldo mit seinen Erklärungen fortfahren würde.
Nach einer kurzen Pause, während der er ihnen Gelegenheit gab, die Glaskugel näher zu betrachten, sagte er: »Ein Glasbläser auf Murano stellt diese bezaubernden kleinen Dinger nach meinen Plänen her.«
Pläne?, wunderte sich Merle. Für eine einfache Kugel aus Glas?
»Wenn ihr einem Spiegelschemen gegenübersteht, müsst ihr nur ein bestimmtes Wort aussprechen, und sofort wird er im Inneren der Kugel gefangen«, erläuterte Arcimboldo. »Das Wort lautet intorabilius-peteris. Ihr müsst es euch einprägen, als wäre es euer Name. Intorabiliuspeteris.«
Die Mädchen wiederholten das seltsame Wort, verhaspelten sich ein paar Mal, waren dann aber sicher, es im Kopf behalten zu können.
Der Meister zog eine zweite Kugel hervor, reichte jedem Mädchen eine und ließ sie vor den Spiegel treten. »Mehrere Spiegel sind befallen, aber für heute wollen wir es mit einem gut sein lassen.« Er machte eine Art Verbeugung in Richtung des Spiegels und sprach ein Wort in einer fremden Sprache.
»Tretet ein«, sagte er dann.
»Einfach so?«, fragte Merle.
Arcimboldo lachte. »Natürlich. Oder wollt ihr lieber auf einem Pferd hineinreiten?«
Merles Blick tastete über die Spiegelfläche. Sie sah glatt und solide aus, nicht nachgiebig wie die ihres Handspiegels. Die Erinnerung ließ sie kurz zu Junipa hinüberschauen. Was immer sie heute Morgen gesehen hatte, es hatte tiefen Eindruck auf sie gemacht. Jetzt schien sie Angst zu haben, Arcimboldos Anweisung zu befolgen.
Für einen Moment war Merle versucht, dem Meister alles zu erzählen und um Verständnis dafür zu bitten, dass Junipa hier bleiben und Merle allein gehen würde.
Dann aber machte Junipa einen ersten Schritt und streckte die Hand aus. Ihre Finger durchbrachen die Spiegelfläche wie die Haut auf einem Kessel gekochter Milch. Kurz schaute sie über die Schulter zurück zu Merle, dann lächelte sie gezwungen und trat ins Innere des Spiegels. Ihre Gestalt war immer noch zu erkennen, sah jetzt aber flach und irgendwie unecht aus, wie eine Figur in einem Gemälde. Sie winkte Merle zu.
»Tapferes Mädchen«, murmelte Arcimboldo zufrieden.
Merle durchbrach die Spiegelfläche mit einem einzigen Schritt. Sie spürte ein kaltes Kribbeln, wie einen Windhauch um Mitternacht, dann war sie auf der anderen Seite und schaute sich um.
Sie hatte einmal von einem Spiegellabyrinth gehört, das sich in einem Palazzo am Campo Santa Maria Nova befinden sollte. Sie kannte niemanden, der es mit eigenen Augen gesehen hatte, doch die Bilder, die die Gerüchte in ihr heraufbeschworen hatten, hielten keinem Vergleich mit dem stand, was sie jetzt vor sich sah.
Eines ließ sich auf den ersten Blick erkennen: Die Spiegelwelt war ein Reich der Täuschungen. Es war der Ort unter dem doppelten Boden des Zauberzylinders, die Räuberhöhle aus Tausendundeiner Nacht, der Palast der Götter auf dem Olymp. Sie war künstlich, ein Trugbild, ein Traum, den nur jene träumten, die daran glaubten. Und doch erschien sie Merle in diesem Augenblick so greifbar wie sie selbst. Glaubten auch die Gestalten in einem Gemälde, sich an einem realen Ort aufzuhalten? Gefangene, die sich ihrer Gefangenschaft nicht bewusst waren?
Vor ihnen befand sich ein Saal aus Spiegeln. Nicht wie Arcimboldos Lagerraum, vielmehr ein Gebilde, das von oben bis unten, von rechts nach links
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