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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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anschaue. Nicht, weil deine Augen hässlich sind«, fügte sie schnell hinzu. »Sie sind nur so… so…«
    »Sie fühlen sich kalt an«, sagte Junipa leise, als wäre sie tief in Gedanken. »Manchmal friere ich, sogar wenn die Sonne scheint.«
    Helligkeit bei Nacht, Kälte bei Sonnenschein.
    »Willst du das wirklich tun?«, fragte Merle.
    »Eigentlich wollte ich nicht, ich weiß schon«, sagte Junipa. »Aber wenn du meinst, probiere ich es für dich aus.« Sie schaute Merle an. »Oder möchtest du nicht wissen, was dahinter ist, dort, wo die Hand herkommt?«
    Merle nickte nur stumm.
    Junipa schob den Spiegel auf ihr Gesicht und tauchte darin ein. Ihr Kopf war kleiner als Merles - wie eben alles an ihr zierlicher, schmaler, verletzlicher war -, und so verschwand er bis zu den Schläfen im Wasser.
    Merle wartete. Sie beobachtete Junipas dünnen Körper unter dem viel zu weiten Nachthemd, die Art und Weise, wie sich ihre Schultern darunter abhoben und ihre Schlüsselbeine an den Rändern ihres Ausschnitts hervorstachen, so scharf umrissen, als lägen sie über der Haut statt darunter.
    Der Anblick war sonderbar, fast ein wenig verrückt, nun, da sie zum ersten Mal einen anderen Menschen im Umgang mit dem Spiegel sah. Verrücktheiten können ganz normal sein, solange man sie selbst tut; beobachtet man einen anderen dabei, rümpft man die Nase, dreht sich rasch um und geht davon.
    Aber Merle schaute weiter zu, und sie fragte sich, was es war, was Junipa in diesen Augenblicken sah.
    Schließlich hielt sie es nicht länger aus und fragte: »Junipa? Kannst du mich hören?«
    Natürlich konnte sie. Ihre Ohren befanden sich über der Wasseroberfläche. Trotzdem gab sie keine Antwort.
    »Junipa?«
    Merle war beunruhigt, aber noch schritt sie nicht ein. Ganz langsam quollen Visionen in ihr empor, Bilder von Bestien, die auf der anderen Seite am Gesicht ihrer Freundin nagten; gleich, wenn sie den Kopf zurückzog, würde er nur noch eine hohle Schale aus Knochen und Haar sein, wie die Helme der Stämme, die Professor Burbridge damals während seiner Expedition in die Hölle entdeckt hatte.
    »Junipa?«, fragte sie erneut, diesmal eine Spur schärfer. Sie ergriff die freie Hand des Mädchens. Ihre Haut war warm. Merle konnte den Puls spüren.
    Junipa kehrte zurück. Genau das war es: eine Rückkehr. Auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck eines Menschen, der sehr weit fort gewesen war, in fernen, unvorstellbaren Ländern, die vielleicht auf der anderen Seite des Globus oder nur in seiner Vorstellung existierten.
    »Was war dort?«, fragte Merle besorgt. »Was hast du gesehen?«
    Sie hätte eine Menge dafür gegeben, wenn Junipa in diesem Moment die Augen eines Menschen besessen hätte. Augen, in denen man lesen konnte. Manchmal Dinge, die man lieber nicht erfahren hätte; immer aber die Wahrheit.
    Doch Junipas Augen blieben blank und hart und ohne jede Regung.
    Kann sie noch weinen?, durchfuhr es Merle, und die Frage schien mit einem Mal wichtiger als jede andere.
    Aber Junipa weinte nicht. Nur ihre Mundwinkel zuckten. Trotzdem sah es nicht aus, als wollte sie lächeln.
    Merle beugte sich vor, nahm ihr den Spiegel aus der Hand, legte ihn auf die Decke und fasste sie sanft bei den Schultern. »Was ist in dem Spiegel?«
    Junipa schwieg einen Moment, dann richtete sich silbernes Glas in Merles Richtung. »Es ist dunkel dort drüben.«
    Das weiß ich, wollte Merle schon sagen, ehe ihr klar wurde, dass Junipa eine andere Dunkelheit meinte als jene, die Merle gesehen hatte.
    »Erzähl es mir«, verlangte sie.
    Junipa schüttelte den Kopf. »Nein. Darum darfst du mich nicht bitten.«
    »Was?«, entfuhr es Merle.
    Junipa löste sich von ihr und stand auf. »Frag mich nie, was ich dort gesehen habe«, sagte sie tonlos. »Niemals.«
    »Aber, Junipa…« »Bitte.«
    »Es kann nichts Schlimmes sein!«, rief Merle aus. Trotz und Verzweiflung regten sich in ihr. »Ich habe die Hand gefühlt. Die Hand, Junipa!«
    Als sich draußen vor dem Fenster eine Wolke vor die Morgensonne schob, verdüsterte sich auch der Blick von Junipas Spiegelaugen. »Lass es bleiben, Merle. Vergiss die Hand. Vergiss am besten den Spiegel.«
    Mit diesen Worten drehte sie sich um, öffnete die Tür und trat auf den Korridor.
    Merle blieb starr auf dem Bett sitzen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Bald hörte sie eine Tür zuschlagen, und dann fühlte sie sich sehr allein.
    An diesem Tag schickte Arcimboldo seine beiden Lehrmädchen auf die Jagd nach

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