Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
ihr aufblickte, war die Träne auf Unkes Wange getrocknet. Nun schien es wieder, als hätte sie die Geschichte einer anderen erzählt, ein Schicksal, fern und unbedeutend. Merle wäre am liebsten aufgestanden und hätte sie in die Arme genommen, aber sie wusste, dass Unke dies nicht erwartete und wohl auch nicht gewollt hätte.
»Nur eine Geschichte«, flüsterte die Meerjungfrau. »So wahr und so unwahr wie alle anderen, die wir am liebsten niemals gehört hätten.«
»Ich bin froh, dass Sie sie mir erzählt haben.«
Unke nickte kaum merklich, dann schaute sie auf und deutete über Merle hinweg nach vorn. »Sieh mal«, sagte sie, »wir sind gleich am Ziel.«
Der Fackelschein um sie herum verblasste, obwohl die Flammen weiter loderten. Es dauerte einen Augenblick, ehe Merle erkannte, dass die Wände des Tunnels zurückgeblieben waren. Die Gondel war lautlos in einen unterirdischen Raum oder eine Höhle geglitten.
Vor ihnen schälte sich eine Steigung aus der Dunkelheit. Sie führte als schräger Abhang aus dem Wasser empor und war mit irgendetwas bedeckt, das Merle aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Pflanzen vielleicht. Ein bleiches, verschlungenes Geäst. Aber welche Pflanzen dieser Größe konnten hier unten gedeihen?
Einmal, während sie den finsteren See überquerten, der den Grund der Halle ausmachte, glaubte sie, Bewegungen im Wasser zu sehen. Sie redete sich ein, dass es Fische waren. Sehr große Fische.
»Es gibt weit und breit keinen Berg«, sprach sie ihre Gedanken laut aus. »Wie also kann es mitten in Venedig eine Höhle geben?« Sie wusste genug über das Verhalten des Wasserspiegels, um sicher zu sein, dass sie sich nicht unter dem Meer befinden konnten. Was immer dies für eine Halle war, sie lag in der Stadt, inmitten prachtvoller Paläste und eleganter Fassaden - und sie war künstlich angelegt worden.
»Wer hat das gebaut?«, fragte sie.
»Ein Freund der Meerjungfrauen.« Unkes Tonfall verriet, dass sie nicht darüber sprechen wollte.
Ein solcher Ort mitten in der Stadt! Falls er tatsächlich überirdisch lag, musste er eine Außenseite besitzen. Als was war er getarnt? Als verfallener Palazzo einer längst vergessenen Adelsfamilie? Als gewaltiger Lagerkomplex? Es gab keine Fenster, die Aufschluss über das Äußere gaben, und in der Finsternis waren weder die Decke noch die Seitenwände zu erkennen. Nur der seltsame Hang rückte näher und näher.
Merle erkannte jetzt, dass sie mit ihren anfänglichen Zweifeln Recht gehabt hatte. Auf dem Hang wuchsen keine Pflanzen. Die verzweigten Gebilde waren etwas anderes.
Jählings stockte ihr der Atem, als sie die Wahrheit erkannte.
Es waren Knochen. Die Gebeine hunderter Meerjungfrauen. Über- und untereinander, ineinander verschlungen, vom Tod aneinander geschmiedet, verkantet und verworren. Mit rasendem Herzschlag sah sie, dass die Oberkörper wie menschliche Gerippe aussahen, während der Schuppenschwanz Ähnlichkeit mit einer übergroßen Fischgräte hatte. Der Anblick war so absurd wie erschütternd.
»Sind sie alle hergekommen, um zu sterben?«
»Freiwillig, ja«, sagte Unke und lenkte die Gondel nach links, sodass die Steuerbordseite auf den Berg aus Gebeinen wies.
Das Fackellicht täuschte in den verästelten Knochen Bewegungen vor, wo keine waren. Die dürren Schatten zuckten und zitterten, sie bewegten sich wie Spinnenbeine, die sich von ihren Körpern gelöst hatten und nun aus eigener Kraft umeinander huschten.
»Der Friedhof der Meerjungfrauen«, flüsterte Merle. Jeder kannte die alte Legende. Bislang hatte man ihn weit draußen an den Rändern der Lagune oder auf hoher See vermutet. Schatzsucher und Glücksritter hatten versucht, ihn aufzuspüren, denn die Gebeine eines Meerweibs waren kostbarer als Elfenbein, härter und in alten Zeiten als Waffen in den Schlachten Mann gegen Mann gefürchtet. Dass der Friedhof in der Stadt lag, unter den Augen aller Bewohner, war schwer zu begreifen. Noch dazu, dass ein Mensch geholfen haben sollte, ihn anzulegen. Was nur hatte ihn dazu veranlasst? Und wer war er gewesen?
»Ich wollte, dass du diesen Ort siehst.« Unke verneigte sich leicht, und erst nach einem Augenblick wurde Merle klar, dass die Geste ihr galt. »Geheimnis gegen Geheimnis. Stillschweigen für alle Zeit. Darauf den Eid einer Berührten.«
»Ich soll schwören?«
Unke nickte.
Merle wusste nicht, wie sie es sonst tun sollte, deshalb hob sie eine Hand und sagte feierlich: »Ich leiste einen Eid auf mein Leben, dass
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