Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Hand. »Oh, Junipa…« Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und wickelte sie mit der Innenseite um den Unterarm ihrer Freundin. Dabei wurde der obere Rand des Handspiegels sichtbar, der in einer Tasche ihres Kleides steckte.
Plötzlich sauste einer der Schemen in einer engen Spirale um ihren Oberkörper und verschwand in der Oberfläche des Wasserspiegels.
»Oh nein«, weinte Junipa, »das ist alles meine Schuld.«
Merle machte sich mehr Sorgen um Junipas Wohlergehen als um den Spiegel. »Ich glaube, wir haben sowieso alle erwischt«, presste sie hervor und konnte ihren Blick nicht von dem Blut am Boden nehmen. Ihr Gesicht spiegelte sich in den Tropfen: als hätte das Blut winzige Augen, die zu ihr emporstarrten. »Verschwinden wir von hier.«
Junipa hielt sie zurück. »Willst du Arcimboldo erzählen, dass einer von denen in deinen Spiegel -«
»Nein«, fiel Merle ihr ins Wort. »Er würde ihn mir nur abnehmen.«
Junipa nickte betroffen, und Merle legte tröstend einen Arm um ihre Schulter. »Mach dir deshalb keine Gedanken.«
Sanft schob sie Junipa zurück zum Tor, einem glitzernden Rechteck, nicht weit von ihnen. Eng umschlungen traten sie aus dem Spiegel zurück in den Lagerraum.
»Was ist geschehen?«, fragte Arcimboldo, als er den Wickel um Junipas Hand sah. Er machte sich gleich daran zu schaffen, entdeckte die Schnittwunden und lief zur Tür. »Unke!«, brüllte er hinaus in die Werkstatt. »Bring Verbandszeug! Schnell!«
Auch Merle begutachtete die Schnitte. Glücklicherweise schien keiner wirklich gefährlich zu sein. Die meisten waren nicht einmal tief, nur rote Kratzer, auf denen sich bereits hauchdünne Krusten bildeten.
Junipa deutete auf die Blutflecken in Merles zerknüllter Jacke. »Ich werd das gleich sauber machen.«
»Das kann Unke erledigen«, schaltete Arcimboldo sich ein. »Sagt mir lieber, wie das passiert ist!«
Merle erzählte mit wenigen Worten, was vorgefallen war. Nur die Flucht des letzten Schemens in ihren Handspiegel verschwieg sie. »Ich habe alle Schemen gefangen«, sagte sie und zog die Kugel aus ihrer Tasche. Die hellen Schlieren im Inneren rotierten jetzt hektischer.
Arcimboldo ergriff die Kugel und hielt sie ins Gegenlicht. Was er sah, schien ihm zu gefallen, denn er nickte zufrieden. »Das habt ihr gut gemacht«, lobte er die beiden Mädchen. Kein Wort über die zerbrochene Kugel.
»Ruht euch jetzt aus«, riet er ihnen, nachdem Unke die Schnitte verarztet hatte. Dann winkte er Dario, Boro und Tiziano herbei, die durch die Lagertür lugten. »Den Rest erledigt ihr drei.«
Als Merle mit Junipa die Werkstatt verließ, drehte sie sich noch einmal zu Arcimboldo um. »Was geschieht jetzt mit ihnen?« Sie deutete auf die Kugel in der Hand des Meisters.
»Wir werfen sie in den Kanal«, erklärte er mit einem Schulterzucken. »Sollen sie sich im Spiegelbild auf dem Wasser einnisten.«
Merle nickte, als hätte sie mit nichts anderem gerechnet, dann führte sie Junipa hinauf auf ihr Zimmer.
Die Nachricht sprach sich wie ein Lauffeuer in der Werkstatt herum. Es würde ein Fest geben! Morgen waren es auf den Tag genau sechsunddreißig Jahre, seit die Heerscharen des ägyptischen Imperiums an den Rändern der Lagune gestanden hatten. Dampfboote und Galeeren waren auf dem Wasser gekreuzt, und Sonnenbarken hatten am Himmel bereitgestanden für den Angriff auf die hilflose Stadt. Doch die Fließende Königin hatte Venedig beschützt, und seither feierte man an diesem Tag in der ganzen Stadt Freudenfeste. Eines davon fand ganz in der Nähe statt. Tiziano hatte es heute Morgen erfahren, als er Unke zum Fischmarkt begleitet hatte, und er erzählte sogleich Dario davon, der es wiederum an Boro und, ein wenig widerwillig, an Merle und Junipa weitergab.
»Eine Feier zu Ehren der Fließenden Königin! Gleich hier um die Ecke! Es werden schon überall Lampions aufgehängt und Bierfässer angeschlagen und Weinflaschen entkorkt!«
»Etwa auch für euch Kinder?«, warf Arcimboldo schmunzelnd ein, der alles mit angehört hatte.
»Wir sind keine Kinder mehr!«, empörte sich Dario. Mit einem spöttischen Seitenblick auf Junipa fügte er hinzu: »Zumindest die meisten von uns.«
Merle wollte Junipa in Schutz nehmen, doch das war nicht nötig. »Wenn es Ausdruck von Erwachsensein ist«, sagte Junipa ungewohnt schnippisch, »im Dunkeln in der Nase zu bohren, sich am Hintern zu kratzen und noch ganz andere Dinge zu tun, dann bist du natürlich sehr erwachsen. Nicht wahr, Dario?«
Der Junge war
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