Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
bei ihren Worten puterrot geworden. Auch Merle starrte ihre Freundin verwundert an. Hatte Junipa sich nachts in die Zimmer der Jungen geschlichen und sie beobachtet? Oder konnte sie dank ihrer Spiegelaugen neuerdings sogar durch Wände blicken? Ihr wurde unwohl bei diesem Gedanken.
Dario plusterte sich entrüstet auf, doch Arcimboldo schlichtete den Streit mit einem Wink. »Ruhe jetzt, sonst geht keiner von euch zum Fest! Andererseits, wenn ihr morgen eure Aufgaben pünktlich zum Sonnenuntergang erledigt habt, sehe ich keinen Grund .«
Der Rest seiner Worte ging im Jubel der Lehrlinge unter. Sogar Junipa strahlte übers ganze Gesicht. Es sah aus, als hätte sich ein Schatten von ihren Zügen gehoben.
»Eines allerdings sollt ihr wissen«, sagte der Meister. »Die Schüler aus der Weberwerkstatt werden mit Sicherheit auch dort sein. Ich will keinen Ärger. Schlimm genug, dass unser Kanal zum Schlachtfeld geworden ist. Ich werde nicht zulassen, dass dieser Streit andernorts ausgetragen wird. Wir haben auch so schon genug Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Also - keine Beleidigungen, keine Kämpfe, nicht einmal ein schiefer Blick.« Seine Augen sonderten Dario unter den Lehrlingen aus. »Verstanden?«
Dario atmete tief durch und nickte hastig. Auch die anderen beeilten sich, ihre Zustimmung zu murmeln. Im Grunde genommen war Merle dankbar für Arcimboldos Worte, denn das Letzte, worauf sie Lust hatte, war eine neuerliche Keilerei mit den Weberjungen. Junipas Wunden hatten sich in den vergangenen drei Tagen gut entwickelt; sie brauchten jetzt Ruhe, um endgültig zu verheilen.
»Na, dann alle zurück an die Arbeit«, sagte der Meister zufrieden.
Merle erschien die Zeit bis zum Fest endlos. Sie war aufgeregt und konnte es kaum noch erwarten, wieder unter Menschen zu kommen, nicht etwa, weil sie die Werkstatt und ihre Bewohner satt hatte - Dario einmal ausgenommen -, sondern, weil sie das wilde Leben in den Gassen vermisste, die schnatternden Stimmen der Frauen und das durchschaubare Prahlen der Männer.
Endlich war der Abend da, und sie verließen gemeinsam das Haus. Die Jungen liefen voraus, während Merle und Junipa langsam folgten. Arcimboldo hatte für Junipa eine Brille aus dunklem Glas angefertigt, die verhindern sollte, dass jedermann auf ihre Spiegelaugen aufmerksam wurde.
Die kleine Truppe bog um die Ecke, dort, wo der Kanal der Ausgestoßenen in eine breitere Wasserstraße mündete. Schon von weitem sahen sie hunderte von Lichtern an den Fassaden der Häuser, Lichter in den Fenstern und Türen. Eine schmale Brücke, kaum mehr als ein Überweg, verband an dieser Stelle die Ufer. Ihr Geländer war mit Lampions und Kerzen geschmückt, während die Menschen auf den Gehwegen saßen, manche auf Stühlen und Sesseln, die sie aus ihren Häusern herangeschafft hatten, andere auf Kissen oder dem blanken Stein. An mehreren Stellen wurden Getränke ausgeschenkt, obwohl, wie Merle in einem Anflug von Schadenfreude feststellte, Dario sicher enttäuscht war: Wein und Bier gab es kaum, denn dies war ein Fest der armen Leute. Niemand hier konnte es sich leisten, Unsummen für Trauben oder Gerste auszugeben, die auf gefahrvollen Wegen in die Stadt geschmuggelt werden mussten. Der Belagerungsring des Pharaos war auch nach all den Jahren so dicht wie zu Beginn des Krieges. Mochte man ihn im Alltag nicht wahrnehmen, so bezweifelte doch niemand, dass kaum eine Maus, geschweige denn ein Schmugglerboot, an den ägyptischen Heerlagern vorüberschlüpfte. Gewiss, man konnte an Wein herankommen - so wie Arcimboldo es tat -, aber meist war es schwierig, sogar gefährlich. Die arme Bevölkerung trank für gewöhnlich Wasser, während man sich bei Festen mit Säften und allerlei selbst gebrannten Schnäpsen aus Obst und Gemüse zufrieden gab.
Oben auf der Brücke entdeckte Merle den Weberlehrling, der während des Überfalls als Erster seine Maske verloren hatte. Bei ihm waren zwei weitere Jungen. Der eine hatte ein rotes Gesicht, wie von einem Sonnenbrand; offenbar war es ihm nicht leicht gefallen, den Leim abzuwaschen, den Merle ihm unter die Maske gespritzt hatte.
Ihr Anführer Serafin war nirgends zu sehen. Verblüfft stellte Merle fest, dass sie unwillkürlich nach ihm Ausschau gehalten hatte und fast enttäuscht war, ihn nicht zu entdecken.
Junipa dagegen war wie ausgewechselt. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. »Siehst du den dort?« und »Schau dir die an!«, flüsterte sie Merle immer wieder kichernd zu und lachte
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