Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
weiter. »Komm schon. Sonst gibt’ s heute Nacht weder Löwen noch Räte noch Abenteuer.«
    Diesmal war er es, der ihr folgte. Sie hatte das Gefühl, dass er sie auf die Probe stellte. Würde sie dieselbe Richtung einschlagen, die auch er gewählt hätte? Deutete sie das ferne Flügelschlagen am Himmel richtig und ließ sich davon ans Ziel führen?
    Sie würde ihm schon zeigen, wo es langging - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
    Sie eilte um weitere Ecken und schaute immer wieder zum Nachthimmel zwischen den Dachkanten empor, ehe sie schließlich langsamer wurde und sich Mühe gab, keinen Laut mehr zu verursachen. Von hier an liefen sie Gefahr, entdeckt zu werden. Sie wusste nur nicht, ob die Gefahr vom Himmel herab oder aus einem der Hauseingänge drohte.
    »Es ist das Haus da drüben«, flüsterte Serafin.
    Ihr Blick folgte seinem Zeigefinger zum Eingang eines schmalen Gebäudes, gerade breit genug für eine Tür und zwei verbarrikadierte Fenster. Es schien einst der Gesindebau eines benachbarten Herrschaftshauses gewesen zu sein, zu Zeiten, als die Fassaden Venedigs noch von Reichtum und Prunk kündeten. Heute aber standen die Palazzi ebenso leer wie die Häuser am Kanal der Ausgestoßenen und anderswo. Nicht einmal Herumtreiber und Bettler quartierten sich dort ein, denn im Winter war es unmöglich, die riesigen Säle zu heizen. Brennholz war seit Beginn der Belagerung Mangelware, und längst war damit begonnen worden, die verlassenen Bauten der Stadt auszuschlachten, ihre Holzdecken und Balken herauszubrechen, um damit in den kalten Monaten die Öfen zu heizen.
    »Warum soll es gerade dieses Haus sein?«, fragte Merle leise.
    Serafin deutete hinauf zum Dach. Merle musste sich eingestehen, dass er erstaunlich gute Augen hatte: Über der Kante des Daches schaute etwas hervor, eine steinerne Pranke, die sich um den Ziegelrand krallte. Von der Straße aus war es unmöglich, den Löwen zu sehen, der dort oben in der Finsternis Wache hielt. Trotzdem zweifelte Merle nicht, dass aus dem Dunkeln wachsame Augen in die Tiefe starrten.
    Merle und Serafin standen im Schatten eines Hauseingangs, unsichtbar von oben, doch wenn sie zu dem schmalen Gebäude hinüberlaufen würden, musste der Wachtposten auf dem Dach sie unweigerlich bemerken.
    »Wir versuchen’s hintenrum«, schlug Serafin leise vor.
    »Aber die Rückseite des Hauses grenzt an den Kanal!« Merles Orientierungssinn war in den engen Gassen unschlagbar. Sie wusste genau, wie es hinter dieser Häuserzeile aussah. Die Mauern waren dort glatt, und es gab keine Uferwege.
    »Wir schaffen’s trotzdem«, sagte Serafin. »Vertrau mir.«
    »Als Freund oder Meisterdieb?«
    Er verharrte kurz, legte den Kopf schräg und sah sie verwundert an. Dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Freunde?«, fragte er vorsichtig.
    Sie nahm seine Hand fest in die ihre. »Freunde.«
    Serafin strahlte übers ganze Gesicht. »Dann sag ich dir als Meisterdieb, dass wir irgendwie in dieses Haus hineinkommen werden. Und als Freund…« Er zögerte kurz, setzte dann neu an: »Als Freund verspreche ich dir, dass ich dich nie im Stich lassen werde, ganz gleich, was heute Nacht passiert.«
    Er wartete nicht ab, bis sie etwas erwidern konnte, sondern zog sie mit sich, zurück in den Schatten der Gasse, aus der sie gekommen waren. Zielsicher suchten sie sich ihren Weg durch Tunnel, über einen Hinterhof und durch leer stehende Häuser.
    Es schien kaum Zeit vergangen, da hangelten sie sich schon einen schmalen Sims entlang, der an der Rückseite einer Gebäudereihe verlief. Unter ihnen schaukelte nachtschwarzes Wasser. Zwanzig Meter entfernt war in der Dunkelheit vage der gewölbte Umriss einer Brücke zu erkennen. An ihrer höchsten Stelle stand ein Löwe mit bewaffnetem Reiter. Der Mann wandte ihnen den Rücken zu. Selbst wenn er sich umdrehte, würde er sie in der Finsternis schwerlich erkennen können.
    »Hoffentlich wittert uns der Löwe nicht«, flüsterte Merle. Wie Serafin drückte sie sich flach an der Mauer entlang. Der Sims war gerade breit genug für ihre Fersen. Sie hatte Mühe, auf ihr Gleichgewicht zu achten und zugleich den Wachtposten auf der Brücke im Auge zu behalten.
    Serafin bereitete der Mauersims weniger Probleme. Er war es gewohnt, auf den ungewöhnlichsten Wegen in fremde Häuser einzudringen, erst als Dieb, dann als Umbertos geheimer Bote. Trotzdem gab er Merle nicht das Gefühl, dass sie ihn aufhielt.
    »Warum dreht er sich nicht um?«, brachte er zwischen

Weitere Kostenlose Bücher