Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
zusammengebissenen Zähnen hervor. »Mir gefällt das nicht.«
Da Merle ein wenig kleiner war als er, konnte sie ein Stück weit unter der Brücke hindurchschauen. Jetzt sah sie, dass sich aus der anderen Richtung ein Boot näherte. Sie berichtete Serafin im Flüsterton von ihrer Entdeckung. »Den Wächter scheint das gar nicht zu beunruhigen. Sieht aus, als hätte er auf das Boot gewartet.«
»Ein geheimes Treffen«, überlegte Serafin. »Das habe ich schon einige Male beobachtet. Ein Rat trifft einen seiner Informanten. Es heißt, der Stadtrat hat seine Spione überall, in allen Schichten der Bevölkerung.«
Merle hatte im Augenblick ganz andere Sorgen. »Wie weit ist es noch?«
Serafin beugte sich ein paar Zentimeter vor. »Ungefähr drei Meter, dann sind wir am ersten Fenster. Falls es offen steht, können wir ins Haus klettern.« Er schaute sich zu Merle um. »Kannst du erkennen, wer in dem Boot ist?«
Sie blinzelte angestrengt, in der Hoffnung, die aufrechte Gestalt im Bug deutlicher sehen zu können. Doch wie die beiden Ruderer, die weiter hinten saßen, war sie in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt. In Anbetracht der Uhrzeit und der Kälte kein Wunder, und doch fröstelte Merle bei diesem Anblick. Täuschte sie sich, oder scharrte der Löwe oben auf der Brücke nervös mit einer Tatze?
Serafin erreichte das Fenster. Sie waren jetzt keine zehn Meter mehr von der Brücke entfernt. Er schaute vorsichtig durch das Glas und nickte Merle zu. »Das Zimmer ist leer. Sie müssen sich irgendwo anders im Haus aufhalten.«
»Bekommst du das Fenster auf?« Merle war einigermaßen schwindelfrei, aber ihr Rücken begann zu schmerzen, und ein Kribbeln kroch ihre angespannten Beine herauf.
Serafin presste gegen das Glas, erst sanft, dann ein wenig kraftvoller. Ein leises Knacken ertönte. Der rechte Flügel schwenkte nach innen.
Merle atmete auf. Gott sei Dank! Sie versuchte, das Boot im Auge zu behalten, während Serafin ins Haus kletterte. Das Gefährt hatte auf der anderen Seite der Brücke angelegt. Der Löwe trug seinen Reiter auf festen Boden, um die Kapuzengestalt in Empfang zu nehmen.
Merle fielen die fliegenden Löwen am Himmel ein. Mindestens drei. Vielleicht mehr. Wenn einer von ihnen erneut herab stieße und den Kanal entlangflöge, würde er sie sofort entdecken.
Doch da reichte Serafin ihr schon durchs Fenster seine Hand und zog sie ins Innere des Hauses. Aufatmend spürte sie Holzbohlen unter ihren Füßen. Vor Erleichterung hätte sie den Boden küssen mögen. Oder Serafin. Besser nicht. »Du bist ganz rot«, stellte er fest. »Ich hab mich angestrengt«, gab sie rasch zurück und wandte ihr Gesicht ab. »Wie geht’s jetzt weiter?«
Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sie glaubte erst, dass er sie immer noch anstarrte, vielleicht, um herauszufinden, ob wirklich die Anstrengung der Grund für ihre roten Wangen war; dann bemerkte sie, dass er lauschte, ganz ähnlich wie es Junipa während ihrer Fahrt zum Kanal der Ausgestoßenen getan hatte. Hoch konzentriert, damit ihm nicht der geringste Laut entging.
»Sie sind weiter vorne im Haus«, sagte er schließlich. »Mindestens zwei Männer, vielleicht auch drei.«
»Mit den Soldaten macht das ungefähr ein halbes Dutzend.«
»Angst?«
»Keine Spur.«
Er lächelte. »Wer ist hier der Aufschneider?«
Sie konnte nicht anders und erwiderte sein Lächeln. Er durchschaute sie sogar im Dunkeln. Bei jedem anderen wäre ihr das unangenehm gewesen. »Vertrau mir«, hatte er gesagt, und tatsächlich, sie vertraute ihm. Alles ging viel zu schnell, aber ihr blieb keine Zeit, sich davon verwirren zu lassen.
Mucksmäuschenstill schlichen sie aus dem Zimmer und tasteten sich einen stockfinsteren Gang hinunter. An seinem Ende lag die Haustür. Durch den ersten Durchgang auf der rechten Seite fiel ein Schimmer von Kerzenlicht. Zu ihrer Linken führten Treppenstufen hinauf in den ersten Stock.
Serafin brachte seine Lippen ganz nah an Merles Ohr. »Warte hier. Ich seh mich um.«
Sie wollte protestieren, doch er schüttelte rasch den Kopf.
»Bitte«, fügte er hinzu.
Schweren Herzens blickte sie ihm nach, als er sich zu dem erleuchteten Durchgang pirschte. Jeden Moment konnte die Haustür aufgehen und der Mann mit der Kapuze hereinkommen, begleitet von dem Soldaten.
Serafin erreichte die Tür, schaute vorsichtig hindurch, verharrte einen Moment und kehrte dann zu Merle zurück. Stumm deutete er auf die Stufen nach oben.
Tonlos folgte sie seiner Anweisung.
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