Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Nirgends war eine Brücke zu sehen.
»Eine Sackgasse«, brummte Merle. »Wir müssen wieder zurück.«
Serafin schüttelte den Kopf. »Wir sind genau da, wo ich hinwollte.« Er beugte sich ein Stück weit über die Kante und sah zum Himmel empor, eine schwarze Schneise zwischen den Häusern. Dann schaute er über das Wasser. »Siehst du das da?«
Merle trat neben ihn. Ihr Blick folgte seinem Fingerzeig auf die sanft gewellte Oberfläche. Der brackige Geruch des Kanals stieg ihr in die Nase, aber sie bemerkte es kaum. Algenschlingen trieben umher, weit mehr als gewöhnlich.
Im Wasser spiegelte sich ein erleuchtetes Fenster, das einzige weit und breit. Es befand sich im zweiten Stock eines Hauses auf der anderen Kanalseite. Das gegenüberliegende Ufer war etwa fünf Meter entfernt.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie.
»Siehst du das Licht in dem Fenster?«
»Sicher.«
Serafin zog eine silberne Taschenuhr hervor, ein teures Stück, das vermutlich noch aus der Zeit seiner Diebeslaufbahn stammte. Er ließ den Deckel aufschnappen. »Zehn nach zwölf. Wir sind pünktlich.«
»So?«
Er grinste. »Ich erklär’s dir. Die Spiegelung auf dem Wasser siehst du also, ja?«
Sie nickte.
»Gut. Dann schau jetzt mal an dem Haus hinauf, und zeig mir das Fenster, das sich dort spiegelt. Das mit dem Licht dahinter.«
Merle blickte an der düsteren Fassade empor. Alle Fenster waren dunkel, kein einziges erleuchtet. Wieder schaute sie hinab aufs Wasser. Die Spiegelung blieb unverändert: In einem der reflektierten Fenster brannte Licht. Als sie aber wieder zum Haus sah, war das Rechteck in der Mauer dunkel.
»Wie kann das sein?«, fragte sie verwirrt. »In der Spiegelung ist das Fenster hell, in Wirklichkeit aber rabenschwarz.«
Serafins Grinsen wurde noch breiter. »So, so.«
»Zauberei?«
»Nicht ganz. Oder vielleicht doch. Je nachdem, wie man es betrachtet.«
Ihr Blick verdüsterte sich. »Könntest du dich ein wenig klarer ausdrücken?«
»Es passiert immer in der Stunde nach Mitternacht. Zwischen zwölf und ein Uhr nachts tritt an mehreren Stellen der Stadt das gleiche Phänomen auf. Die wenigsten wissen davon, und auch ich kenne nicht viele dieser Orte, aber es ist wahr: In dieser Stunde werfen ein paar Häuser ein Spiegelbild auf das Wasser, das nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es sind nur winzige Unterschiede. Erleuchtete Fenster, manchmal eine andere Tür, oder Menschen, die an den Häusern entlanggehen, in Wahrheit aber gar nicht da sind.«
»Und was bedeutet das?«
»Niemand weiß es so ganz genau. Aber es gibt Gerüchte.« Er senkte die Stimme und gab sich sehr mysteriös. »Geschichten über ein zweites Venedig.«
»Ein zweites Venedig?«
»Eines, das nur im Spiegelbild auf dem Wasser existiert. Oder zumindest so weit von unserem entfernt liegt, dass man es selbst mit dem schnellsten Schiff nicht erreichen könnte. Nicht einmal mit den Sonnenbarken des Imperiums. Man sagt, dass es in einer anderen Welt liegt, die so ähnlich ist wie unsere und doch ganz anders. Und immer um Mitternacht wird die Grenze zwischen den beiden Städten durchlässig, vielleicht einfach nur, weil sie so alt ist und sich in all den Jahrhunderten abgenutzt hat wie ein zerschlissener Teppich.«
Merle sah ihn mit großen Augen an. »Du meinst, dieses Fenster mit dem Licht… du meinst, es existiert tatsächlich - nur eben nicht hier?«
»Es kommt noch besser. Ein alter Bettler, der seit Jahren an einer dieser Stellen sitzt und sie Tag und Nacht beobachtet, hat mir mehr darüber erzählt. Er behauptet, dass es manchmal Männern und Frauen aus diesem anderen Venedig gelingt, den Wall zwischen den Welten zu überschreiten. Was sie allerdings nicht wissen, ist, dass sie, wenn sie bei uns ankommen, keine Menschen mehr sind. Sie sind dann nur noch Schemen, die für immer in den Spiegelbildern der Stadt gefangen sind. Einigen von ihnen gelingt es, von Spiegel zu Spiegel zu springen, und so verirren sie sich hin und wieder auch in die Werkstatt deines Meisters und in seine Zauberspiegel.«
Merle überlegte, ob Serafin sich wohl einen Scherz mit ihr erlaubte. »Du versuchst doch nicht, mich reinzulegen, oder?«
Serafin zeigte die Zähne. »Sehe ich vielleicht aus, als könnte ich irgendwen beschwindeln?«
»Natürlich nicht, edler Meisterdieb.«
»Glaub mir, so habe ich es tatsächlich gehört. Wie viel davon die Wahrheit ist, kann ich dir auch nicht sagen.« Er zeigte auf das erleuchtete Fenster im Wasser.
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