Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
wiederholte sich.
    »Beeilen«, wiederholte er gedankenverloren ihr letztes Wort.
    Merle spürte Ungeduld in sich aufsteigen. Löwe hin oder her, sie wollte nicht sterben, nur weil er sich nicht entscheiden konnte, ihr zu vertrauen.
    »Ja, beeilen«, sagte sie bestimmt.
    »Reich ihm deine Hand.«
    »Ist das dein Ernst?«
    Die Königin antwortete nicht, und so bewegte sich Merle schweren Herzens auf den Obsidianlöwen zu. Er erwartete sie reglos. Erst als sie ihm ihre Hand entgegenstreckte, hob er in einer gleitenden Bewegung die rechte Vorderpfote, hoch genug, bis sie unter Merles Fingern ruhte.
    Von einem Herzschlag zum anderen ging eine Veränderung mit ihm vor. Sein Blick wurde sanfter.
    »Fließende Königin«, murmelte er kaum hörbar und neigte das Haupt.
    »Er kann dich spüren?«, fragte Merle, ohne es auszusprechen.
    »Steinlöwen sind sensible Wesen. Er hat meine Präsenz schon gefühlt, als du die Tür geöffnet hast. Sonst wärst du längst tot.«
    Wieder sprach der Löwe, und diesmal fixierten seine dunklen Augen Merle; zum ersten Mal wirklich sie. »Und dein Name ist Merle?«
    Sie nickte.
    »Ein schöner Name.«
    Dazu ist jetzt keine Zeit, wollte sie sagen. Aber dann nickte sie nur erneut.
    »Glaubst du, du kannst auf meinem Rücken reiten?«
    Natürlich hatte sie geahnt, dass es dazu kommen würde. Doch nun, da der Ritt auf einem echten Steinlöwen - noch dazu auf einem, der sprechen und fliegen konnte - unmittelbar bevorstand, fühlten sich ihre Knie so weich und verletzlich an wie Luftblasen.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Vermithrax mit voller Stimme. »Halte dich einfach nur fest.«
    Sie trat zögernd neben ihn und sah, wie er sich ablegte.
    »Komm schon«, drängte die Königin unwirsch.
    Merle seufzte lautlos und schwang sich auf den Rücken. Zu ihrem Erstaunen fühlte sich der Obsidian unter ihr warm an und schien sich der Form ihrer Beine anzupassen. Sie saß so sicher wie in einem Sattel.
    »Wo soll ich mich festhalten?«
    »Greif tief in meine Mähne«, sagte Vermithrax. »So tief und so fest du kannst.«
    »Wird dir das nicht wehtun?«
    Er lachte leise und ein wenig bitter, gab aber keine Antwort. Merle packte zu. Die Mähne des Löwen fühlte sich weder an wie echtes Fell noch wie Stein. Hart, und doch gleitend, wie die Arme einer Unterwasserpflanze.
    »Wenn es zum Kampf kommt«, sagte der Löwe und blickte fest zur Tür hinüber, »beuge dich so tief wie möglich über meinen Hals. Am Boden werde ich versuchen, dich mit meinen Schwingen zu schützen.«
    »In Ordnung.« Merle versuchte, ihre zitternde Stimme unter Kontrolle zu halten, aber es gelang ihr nur mühsam.
    Vermithrax setzte sich in Bewegung und glitt mit katzenhaften Bewegungen auf das Tor zu. Blitzschnell war er hinaus durch den Türspalt, auf dem oberen Plateau des Treppenhauses. Er begutachtete aufmerksam die Breite des Schachts, nickte zufrieden und spreizte seine Schwingen.
    »Können wir die Stufen nicht runterlaufen?«, fragte Merle besorgt.
    »Beeilen, hast du gesagt.« Vermithrax’ Worte waren noch nicht verklungen, da erhob er sich schon sanft in die Luft, glitt über das Geländer hinweg - und stürzte sich steil in die Tiefe.
    Merle stieß einen hohen Schrei aus, als der Gegenwind ihr die Lider herabdrückte und sie beinahe hinterrücks vom Leib des Löwen katapultierte. Doch da spürte sie einen unnachgiebigen Druck im Rücken - Vermithrax’ Schwanzspitze presste sie von hinten in die Mähne.
    Ihr Magen schien sich von innen nach außen zu krempeln. Sie fielen, fielen, fielen… Der Boden im Zentrum des Treppenhauses füllte ihr ganzes Sichtfeld aus, als sich der Obsidianlöwe mit einem Ruck zurück in die Waagerechte legte, knapp über den Grund des Turms hinwegfegte und mit einem urgewaltigen Brüllen aus dem Tor des Campanile schoss, ein schwarzer Blitz aus Stein, größer, härter, schwerer als jede Kanonenkugel und mit der Macht eines Orkans.
    »Frreeeeeiiiiiii«, schrie er triumphierend hinaus in die Morgenluft, die noch immer geschwängert war vom Schwefeldunst der Hölle. »Endlich frei!«
    Alles ging so schnell, dass Merle kaum Zeit blieb, Einzelheiten zu erkennen, geschweige denn, sie zu einer logischen Folge von Ereignissen, Bildern, Wahrnehmungen zusammenzufügen.
    Menschen brüllten und liefen durcheinander. Soldaten wirbelten herum. Hauptleute riefen Befehle. Irgendwo krachte ein Schuss, gefolgt von einem ganzen Kugelhagel. Ein Geschoss prallte wie eine Murmel von Vermithrax’

Weitere Kostenlose Bücher