Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
außen davor geschoben.
»Wie sollen wir -«, begann sie, wurde aber unterbrochen, als sich der Lärm auf der Piazza schlagartig steigerte. Rasch lief sie an das vergitterte Fenster und schaute nach unten.
Von hier aus hatte sie eine atemberaubende Aussicht über den vorderen Teil des Platzes und den Feuerspalt, der sich in seiner Mitte aufgetan hatte; erstmals erkannte sie, dass er wenige Meter vor der Wasserkante endete. Hätte sich die Kluft bis ins Meer fortgesetzt, wären Merle und die Meerjungfrauen durch den Sog des Wassers geradewegs in die Flammen gezogen worden.
Aber es war nicht diese Erkenntnis, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war die Katastrophe, die dort unten ihren Anfang nahm.
Drei geflügelte Löwen schossen vom Dach des Dogenpalastes herab, aufgepeitscht von den Schreien ihrer Reiter. Der Stadtrat hatte seine Entscheidung getroffen.
Keine Verhandlungen mehr mit den Fürsten der Hölle, ein für alle Mal.
Ehe der Bote reagieren konnte, waren die drei Löwen heran. Zwei rasten rechts und links an ihm vorüber, verfehlten ihn um Haaresbreite und waren zu schnell durch die Flammen, als dass ihre Reiter hätten Schaden nehmen können. Der dritte Löwe aber, jener in der Mitte der Formation, packte den Boten mit aufgerissenem Maul, bekam ihn in der Mitte seines feisten Leibes zu fassen, riss ihn von dem flammenden Spalt fort und trug ihn davon. Der Bote kreischte, eine entsetzliche Folge von Lauten, unfassbar hoch und schrill für menschliche Ohren. Er hing waagerecht im Schlund des Löwen. Sein bandagierter, wurmartiger Unterleib wand sich wie eine fette Made. Überall auf dem Platz krümmten sich die Menschen, sogar Soldaten ließen ihre Waffen fallen und pressten die Hände auf ihre Ohren.
Der Löwe flog mit dem Boten im Maul eine enge Kurve über den Dächern. Dann schoss er auf die Soldaten zu, die sich vor dem Palast versammelt hatten. Über ihren Köpfen ließ er die kreischende Kreatur fallen wie ein verfaultes Stück Fleisch.
»Merle!«, rief die Fließende Königin in ihren Gedanken. »Merle, das Tor …!«
Aber Merle konnte ihren Blick nicht von dem Spektakel lösen. Die Soldaten spritzten auseinander, gerade noch schnell genug, dass der Bote nicht auf ihre Köpfe stürzte. Schreiend schlug er zwischen ihnen am Boden auf, all seiner Erhabenheit beraubt, nur ein monströses Ding, dessen riesige Hühnerkrallen haltlos in die Luft peitschten, während der Wurmfortsatz seines Unterleibes in Panik auf das Pflaster trommelte.
»Merle …«
Für wenige Herzschläge herrschte Stille auf der gesamten Piazza. Die Menschen verstummten, vergaßen zu atmen, unfähig zu begreifen, was vor ihren Augen geschehen war.
Dann hob triumphierendes Geschrei an. Die Meute hatte Blut geleckt. Niemand dachte mehr an die Konsequenzen. Fast vier Jahrzehnte Eingeschlossensein und Angst vor der Außenwelt brachen sich Bahn.
Aus den Schreien formten sich Worte, dann ein schriller, tosender Sprechgesang:
»Tötet das Biest! Tötet das Biest!«
» Merle! Wir haben keine Zeit!«
»Tötet das Biest!«
» Bitte !«
»Tötet das Biest!«
Die Wunde, die der Sturz des Boten in die Formation der Soldaten gerissen hatte, schloss sich in einer Woge drängender Leiber, blitzender Klingen und verzerrter Gesichter. Dutzende Arme hoben und senkten sich, schlugen mit Säbeln, Gewehrkolben und bloßen Fäusten auf die Kreatur am Boden ein. Das Kreischen des Boten wurde zum Wimmern, dann verstummte es ganz.
»Das Tor, Merle!«
Als Merle sich wie betäubt umdrehte, fiel ihr Blick wieder auf die beiden mächtigen Riegel. So groß!
»Du musst es jetzt öffnen«, flehte die Königin.
Jenseits des Stahls ertönte das Brüllen eines Löwen.
Der Uralte Feind
Es hatte keinen Zweck mehr, die Dinge in Frage zu stellen. Merle hatte eine Aufgabe übernommen. Die Entscheidung war gefallen, als sie den Inhalt der Karaffe getrunken hatte; vielleicht schon früher, als sie mit Serafin das Lampionfest verließ. Ein Abenteuer - das war es doch, was sie gewollt hatte.
Es war erstaunlich leicht, den unteren Torriegel beiseite zu schieben. Erst stemmte sie sich mit ihrem Körper dagegen, doch dann glitt der riesige Stahlbolzen nach links, als sei er gerade am Tag zuvor geölt worden.
Der zweite Riegel erwies sich als schwieriger. Er war eine gute Handbreit über Merles Kopf verankert, zu hoch, als dass sie ihr ganzes Gewicht hätte einsetzen können. Es dauerte lange, ehe es ihr schließlich gelang, ihn ein kleines
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