Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Stück weit zu bewegen. Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht. Die Fließende Königin schwieg. Da - der Riegel glitt nach links. Endlich! »Du musst den Torflügel nach innen schieben«, wies die Königin sie an. Sie klang noch nicht wirklich erleichtert. Bald würden wieder Soldaten auftauchen. Bis dahin mussten sie Vermithrax befreit haben.
Merle zögerte nur einen Atemzug lang. Dann lehnte sie sich mit beiden Händen gegen das stählerne Tor. Mit metallischem Knirschen schwang es nach innen.
Die Turmkammer des Campanile war größer, als sie erwartet hatte. Im Dunkeln konnte sie die Umrisse des Balkengewirrs erkennen, das die hohe Dachspitze stützte. Weit, weit über ihr flatterten Tauben. Weißer Vogelkot bedeckte die Bodenbretter wie feiner Schnee; er war so trocken und staubig, dass Merles Füße bei jedem Schritt kleine Wölkchen aufwirbelten. Die abgestandene Luft roch beißend nach den Exkrementen der Tauben. Der Bewohner dieses Dachbodenkerkers dagegen besaß keinen Eigengeruch; keinen, der sich von dem des Gesteins rundum unterscheiden ließ.
Es war sehr dunkel. Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch ein Fenster auf halber Höhe zwischen dem Boden und den unteren Balken des Turmgiebels. Draußen ging endlich die Sonne auf. Gitterstäbe, so breit wie Merles Oberschenkel, schnitten das Licht in Scheiben.
Auch die Wände waren mit einem Netzwerk aus Stahlgittern überzogen, so als fürchtete man, der Gefangene könne sonst kurzerhand die Mauern einreißen. Selbst die hohen Dachbalken waren mit Gitterstäben durchzogen.
Das Licht, das durch das Fenster hereinfiel, zog sich wie ein Bündel glitzernder Seile schräg durch die Turmkammer und ankerte im Zentrum des Dachbodens. Jenseits des gelben Lichtkleckses herrschte Finsternis, die gegenüberliegende Wand war nicht auszumachen.
Merle fühlte sich klein und verloren unter dem hohen Torbogen. Was soll ich jetzt tun?, dachte sie.
»Du musst ihn begrüßen. Er muss wissen, dass wir in Frieden kommen.«
»Er wird dich nicht erkennen, wenn du nicht selbst zu ihm sprichst«, erwiderte Merle.
»Oh doch, das wird er.«
»Ähm… hallo?«, sagte sie leise.
Tauben raschelten im Gebälk.
»Vermithrax?«
Ein Rasseln ertönte. Auf der anderen Seite des Lichtstrahls. Tief in der Dunkelheit.
»Vermithrax? Ich bin hier, um -«
Sie brach ab, als die Schatten zu etwas Festem, Körperlichem gerannen. Ein Rauschen drang herüber, gefolgt von einem heftigen Windstoß - Schwingen, die auseinander gefaltet wurden, sich streckten. Dann Schritte, weich wie die von Katzenpfoten, nicht so plump und scharrend wie die der anderen Löwen. Animalisch, und doch mit Bedacht gesetzt. Abwartend.
»Die Fließende Königin ist bei mir«, brachte sie hervor. Vermutlich würde Vermithrax sie auslachen.
Ein Umriss, höher als ein Pferd und doppelt so breit, schälte sich aus der Finsternis. Von einem Augenblick zum nächsten stand er im Licht, sein Haupt übergossen vom Schein der Morgensonne.
»Vermithrax«, entfuhr es Merle, nicht lauter als ein Ausatmen.
Der Uralte Verräter sah sie aus stolzen Augen an. Seine rechte Vorderpfote fuhr mörderische Krallen aus - und zog sie gleich wieder ein. Ein Aufblitzen raschen, hundertfachen Todes. Jede einzelne seiner Pranken war so groß wie Merles Kopf, seine Zähne lang wie ihre Finger. Seine Mähne, obwohl aus Stein, raschelte und wogte bei jeder Bewegung wie seidiges Fell.
»Wer bist du?« Seine Stimme war tief und besaß einen leichten Hall.
»Merle«, sagte sie unsicher. Und noch einmal: »Ich heiße Merle. Ich bin eine Schülerin des Arcimboldo.«
»Und Trägerin der Fließenden Königin.«
»Ja.«
Vermithrax machte einen majestätischen Schritt auf sie zu. »Du hast das Tor geöffnet. Warten dort draußen Soldaten, um mich zu töten?« »Im Augenblick sind sie alle auf der Piazza. Aber sie werden bald hier sein. Wir müssen uns beeilen.«
Er blieb wieder stehen, und jetzt beschien das Licht seinen gesamten Körper.
Merle hatte nie zuvor einen Löwen aus Obsidian gesehen. Er war pechschwarz, von der Schnauze bis zu seinem buschigen Schwanz. Ein leichter Glanz lag auf seinen Flanken, dem schlanken Rücken und seinem Löwengesicht. Das Haar seiner gewaltigen Mähne schien ständig in Bewegung, ein unmerkliches Kräuseln, selbst dann, wenn er das Haupt ruhig hielt. Seine ausgebreiteten Schwingen schwebten über ihm, jede fast drei Meter lang. Jetzt faltete er sie wie beiläufig zusammen, vollkommen lautlos. Nur der Luftzug
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