Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
wenige ließen sie am Leben, um von den Wissenschaftlern eine neue Generation fliegender Löwen züchten zu lassen. Niemand erinnerte sich mehr daran, wie es gewesen war, als die Löwen noch Flügel besaßen, und so erschien es den Menschen verlockend, Löwendiener zu besitzen, die mit ihren Schwingen große Lasten tragen oder im Krieg den Feind aus der Luft attackieren konnten, so wie Vermithrax es während seines Angriffs auf die Stadt getan hatte. Eine kleine Zahl neuer Löwen entstand, eine Kreuzung aus den freien, geflügelten Heimkehrern aus Afrika und den willenlosen, treu ergebenen Sklaven Venedigs. Was dabei herausgekommen ist, weißt du: die Fluglöwen, auf denen heute die Garde des Stadtrates reitet. Du hast ja bereits Bekanntschaft mit ihnen gemacht.«
»Und Vermithrax?«
»Für Vermithrax ließ man sich eine besonders perfide Strafe einfallen. Statt ihn zu töten, kerkerte man ihn in diesem Turm ein. Hier in luftiger Höhe musste er sein Schicksal ertragen, und nichts ist schlimmer für einen geflügelten Löwen, als der Fähigkeit des Fliegens beraubt zu sein. Für Vermithrax, der viele Jahre lang frei über den weiten Steppen Afrikas geschwebt war, war das doppelt grausam. Hinzu kam, dass sein Wille gebrochen war - nicht durch die Niederlage, sondern durch den Verrat seiner Artgenossen. Er verstand die Gleichgültigkeit in ihren Herzen nicht, ihre hündische Ergebenheit und die Leichtfertigkeit, mit der sie sich im Auftrag der Menschen gegen ihn gestellt hatten. Das Wissen um diesen Verrat war die härteste aller Strafen für ihn, und so beschloss er, dass es an der Zeit war, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er wies das Essen zurück, das man ihm brachte, nicht etwa aus Angst vor Gift, sondern in der Hoffnung, rasch zu sterben. Doch Vermithrax, dieser Rebell und Raufbold, war wohl der Erste seiner Rasse, der feststellen musste, dass ein Wesen aus Stein keine Nahrung benötigt. Gewiss, auch Steinlöwen verspüren Hunger, und tatsächlich ist das
Fressen eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen - doch lebensnotwendig ist Nahrung für sie nicht. So haust Vermithrax noch heute in diesem Turm, oben unter der Spitze. Von dort aus kann er über die Stadt blicken und ist doch ihr Gefangener.« Die Fließende Königin machte eine kurze Pause und setzte dann hinzu: »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, in welchem Zustand wir ihn antreffen werden.«
Merle näherte sich dem letzten Treppenabsatz. Licht fiel durch ein Fenster auf ein mächtiges Tor aus Stahl. Die Oberflächen schimmerten bläulich. »Wie bist du Vermithrax begegnet?«
»Als er vor fast zweihundert Jahren seine Gefährten aus Afrika hierher führte, glaubte er, dass er es den Menschen in einer Sache gleichtun müsste, um ihnen ebenbürtig zu sein - er musste die angeborene Furcht der Löwen vor dem Wasser überwinden. Seine Vorfahren waren zu Sklaven geworden, weil sie es nicht mit den Wassern der Lagune hatten aufnehmen können. Sie waren zu Gefangenen auf ihrer eigenen Insel geworden, und Vermithrax wollte nicht in die gleiche Falle tappen wie sie. Sobald er die Lagune vor sich sah, fasste er sich daher ein Herz und stürzte sich todesmutig in die Fluten. Doch vor dieser Herausforderung musste sogar der Wagemutigste unter den Löwen kapitulieren. Das Wasser und die Kälte lähmten ihn, und er drohte unterzugehen.«
»Und du hast ihn gerettet?«
»Ich erforschte seine Gedanken, während er in die Tiefe sank. Ich sah die Kühnheit seines Plans und bewunderte seinen starken Willen. Ein Vorhaben wie das seine durfte nicht scheitern, bevor es überhaupt begonnen hatte. So hieß ich das Meervolk, ihn zurück zur Oberfläche zu tragen und sicher an das Ufer eines unbewohnten Eilands zu bringen. Auch gab ich mich ihm zu erkennen, und während er wieder zu sich kam und neue Kraft schöpfte, führten wir lange Gespräche. Ich will nicht sagen, dass wir Freunde wurden - dafür verstand er zu wenig, was ich wirklich war, und ich glaube, er fürchtete mich, weil ich - «
»Weil du selbst Wasser bist?«
»Ich bin die Lagune. Ich. bin das Wasser. Ich bin der Quell des Meervolkes. Vermithrax aber war ein Kämpfer, ein Heißsporn mit einem unbezwingbaren Willen. Er brachte mir Achtung entgegen, und Dankbarkeit, aber auch Furcht.«
Die Fließende Königin verstummte, als Merle erschöpft das höchste Plateau des Treppenhauses betrat. Das Stahltor der Turmkammer war dreimal so hoch wie sie selbst und fast vier Schritt breit. Zwei mannslange Riegel waren von
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