Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
steinerner Flanke ab, doch Merle selbst wurde nicht getroffen.
Im Tiefflug, keine drei Meter über dem Boden, raste der schwarze Obsidianlöwe mit ihr über die Piazza.
Menschen strömten schreiend auseinander. Mütter packten ihre Kinder, die sie nach dem Tod des Boten gerade erst freigegeben hatten.
Vermithrax stieß ein tiefes Grollen aus, wie Steinschlag in den Schlünden eines Bergwerks; es dauerte einen Moment, ehe Merle begriff, dass dies sein Lachen war. Er bewegte sich mit erstaunlicher Grazie, so als wäre er nie im Campanile gefangen gewesen. Seine Schwingen waren nicht steif, sondern kraftvoll und elastisch; seine Augen nicht blind, sondern scharf wie die eines Habichts; seine Beine nicht lahm, seine Krallen nicht stumpf, sein Geist nicht verschleiert.
»Er hat den Glauben an sein Volk verloren«, erklärte die Königin in Merles Gedanken, »aber nicht den Glauben an sich selbst.«
»Du hast gesagt, er wollte sterben.« »Das ist lange her.«
»Leben und leben und leben«, brüllte der Obsidianlöwe, als hätte auch er die Worte der Königin vernommen.
»Hat er?«
»Nein«, sagte die Königin, »aber er kann mich spüren. Und manchmal vielleicht auch das, was ich denke.«
»Was ich denke!«
»Was wir denken.«
Vermithrax raste über den Höllenspalt hinweg. Die Flammen waren erloschen, aber eine graue Rauchwand teilte die Piazza wie ein Vorhang. Vage konnte Merle erkennen, dass Gestein und Geröll von unten in dem Riss aufstiegen und ihn allmählich versiegelten. Bald würde nur noch das aufgerissene Pflaster ein Hinweis auf die Ereignisse sein.
Weitere Kugeln pfiffen Merle um die Ohren, aber seltsamerweise hatte sie während des ganzen Fluges keine Angst, getroffen zu werden. Alles ging viel zu schnell.
Sie schaute nach links und sah die drei Verräter im Pulk der Gardisten stehen, inmitten einer Pfütze aus schleimigen Sekreten, die aus dem Leichnam des Boten flossen.
Purpur. Gold. Und Scharlach. Die Räte hatten erkannt, wer auf dem Rücken des Löwen saß. Und sie wussten, dass Merle ihr Geheimnis teilte.
Sie blickte wieder nach vorne, sah, wie der Platz zurückblieb und die Wellen unter ihr dahinrasten. Das Wasser glühte golden im Morgenrot, eine verheißungsvolle Straße in die Freiheit. Rechts von ihnen lag die Insel Giudecca, gleich darauf ließen sie auch deren Dächer und Türme hinter sich.
Merle stieß einen schrillen Ruf aus, nicht mehr aus Furcht, nur ein Sich-Luft-Machen, ein Ventil für ihre Euphorie und Erleichterung. Der kühle Wind sang in ihren Ohren, und endlich konnte sie wieder durchatmen. Eine Wohltat nach dem entsetzlichen Schwefelgeruch auf dem Platz! Wind drang durch ihr Kleid, durch ihre Haut, durch ihre Knochen. Wind streichelte ihr Haar, floss durch ihre Augen, ihren Geist. Sie verschmolz mit den Lüften, verschmolz auch mit Vermithrax, der sie über das Meer hinwegtrug, zehn, fünfzehn Meter über Wogen aus flüssiger Glut. Alles war in Rot und Gelb getaucht, auch sie selbst. Nur Vermithrax’ Obsidianleib blieb schwarz wie ein Stück Nacht, das auf der Flucht vor dem Licht dahinjagte.
»Wohin fliegen wir?« Merle bemühte sich, das Tosen der Winde zu übertönen, war aber nicht sicher, ob es ihr gelang.
»Fort«, rief Vermithrax übermütig. »Fort, fort, fort!«
»Der Belagerungsring« erinnerte die Fließende Königin. »Denkt an die ägyptischen Aufklärer und die Sonnenbarken. «
Merle wiederholte die Worte für den Löwen. Dabei fiel ihr ein, dass Vermithrax so lange im Campanile eingekerkert gewesen war, dass er gar nichts vom Aufstieg des Imperiums und dem Vernichtungskrieg des Pharaos wissen konnte.
»Es herrscht Krieg«, erklärte sie. »Auf der ganzen Welt herrscht Krieg. Venedig wird von der Armee der Ägypter belagert.«
»Ägypter?«, wunderte sich Vermithrax.
»Das Pharaonenreich. Es hat einen Ring um die Lagune gezogen. Ohne einen Plan kommen wir da nicht durch.«
Vermithrax lachte lauthals. »Aber ich kann fliegen, kleines Mädchen!«
»Das können die Sonnenbarken des Imperiums auch«, erwiderte Merle mit geröteten Wangen. Kleines Mädchen! Pah.
Vermithrax machte einen kleinen Schlenker und schaute über seine Schulter nach hinten. »Mach du deinen Plan! Ich kümmere mich um die da!«
Merle blickte zurück und erkannte, dass sie von einem halben Dutzend fliegender Löwen verfolgt wurden. Auf ihren Rücken saßen schwarze Gestalten in Leder und Stahl.
»Die Garde! Kannst du sie abhängen?«
»Wir werden sehen.«
»Werd ja
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