Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
bewegen. Aber Mumien, vermutete Serafin zynisch, müssen sich wohl kaum kratzen; sie hätten sich dabei nur die ausgedorrte Haut von den Knochen geschabt.
Das also war es, was die Ägypter aus den Toten machten. Willenlose, gnadenlose Sklaven, die Tod und Zerstörung säten. Vermutlich spielten sich in diesen Minuten in ganz Venedig ähnliche Szenen ab. Die Invasion hatte begonnen.
Aber es war ein Unterschied, ob man von Gegnern aus Fleisch und Blut erobert wurde oder von… so etwas. Mit Menschen konnte man reden, konnte sie um Gnade bitten oder einfach nur hoffen, dass sie sich einen Teil ihrer Menschlichkeit bewahrten. Aber mit Mumien?
Serafin konnte die Vorstellung eines Venedig, in dem alles Leben verschleppt, in dem ein unmenschlicher Pharao regierte, nicht länger ertragen. Er wusste, dass er sich am besten mucksmäuschenstill verhielt, sich nicht bewegte, nicht einmal atmete, doch das war unmöglich. Spätestens als ihm klar wurde, dass der ägyptische Gesandte den Oberbefehl über die sechs Krieger führte, konnte er sich nicht mehr verkriechen. Er musste etwas tun, musste handeln. Auch wenn es Wahnsinn war.
Er stieß eine Folge scharfer Pfiffe aus. Einen Moment lang geschah überhaupt nichts. Dann aber wirbelte der Gesandte herum, so schnell, dass sein dunkles Gewand wogte. Seine Kapuze glitt für einen Augenblick zurück, lange genug, dass Serafin sehen konnte, was die Katzen ihm angetan hatten. Das Gesicht des Spions war zerfurcht von verkrusteten Wunden, keine harmlosen Kratzer, sondern tiefe Furchen, die bald zu einer hässlichen Narbenwüste verschorfen würden. Und der Mann wusste, wem er das zu verdanken hatte. Er erinnerte sich an die Laute, die die Katzen auf ihn gehetzt hatten.
Er erinnerte sich an Serafin.
Der Gesandte rief etwas in einer Sprache, die Serafin nicht verstand, und deutete auf den Marienaltar, als könnten seine Augen durch den massiven Stein blicken. Schneller, als Serafin es für möglich gehalten hatte, setzten sich die Mumien in Bewegung, mit erhobenen Sichelschwertern. Eine von ihnen blieb im Hintergrund, in der Nähe des Gesandten. Der Mann schlug seine Kapuze hoch, doch vorher warf er Serafin noch einen hasserfüllten Blick zu, in dem ein Versprechen geschrieben stand - auf Schmerz, auf Elend, auf lange Qual.
Die Mumien hatten die halbe Strecke zurückgelegt. Serafin war gerade aus seinem Versteck gesprungen, als endlich die Katzen kamen.
Dreißig, vierzig, fünfzig streunende Katzen und Kater, aus allen Richtungen, allen Öffnungen, von den Dächern und aus der Kanalisation. Und mit jedem Herzschlag wurden es mehr, bis die Piazza von ihnen wimmelte.
Der Gesandte kreischte auf und floh rückwärts auf die Brücke, während er mit einem schrillen Befehl einen weiteren Krieger zurückkommandierte, damit er die Katzen vom Aufgang fern hielte. Die übrigen vier dagegen kümmerten sich kaum um die Tiere, die von allen Seiten über sie herfielen. Krallen schlugen in Pergamenthaut. Zähne verbissen sich in Kleidung und Rüstzeug, schnappten nach Fingern und rissen staubige Fetzen aus Wangen und Armen.
Nichts von alldem hielt die Mumienkrieger auf.
Zielstrebig setzten sie ihren Weg fort, stampften durch ein Meer aus Fell und Krallen, jeder mit einem Dutzend Katzen behängt wie mit lebendigem Christbaumschmuck. Die Sichel sch werter sausten durch die Luft und trafen blindwütig ihre Opfer, manche am Boden, manche im Sprung. Miauen und Kreischen hallte von den Häusern wider. Aber die Tiere lernten schnell. Immer mehr verbissen sich in die Schwertarme der Krieger, bis die Mumien unter dem Gewicht nachgaben.
Serafin war vor Entsetzen wie gelähmt. Nicht lange, nur für ein paar Herzschläge. Es reichte aus, um zu erkennen, dass die Katzen ihr Leben für ihn opferten. Bei aller Gefahr, die ihm drohte, konnte er das nicht zulassen. Katzen waren die Freunde der Meisterdiebe, ihre Verbündeten, nicht ihre willenlosen Sklaven. Er zögerte einen Augenblick lang, dann stieß er eine neue Folge von Pfiffen aus. Sofort brandete die Welle der Katzen zurück, nur jene, die sich in den Mumien verbissen und verhakt hatten, blieben ein paar Sekunden länger. Dann gaben auch sie auf, ließen sich fallen und huschten davon.
Serafins Kommando bedeutete, dass die Katzen fortlaufen sollten, zurück, woher sie gekommen waren. Doch sie gehorchten nicht. Nur wenige Schritt weit wichen sie vor den Mumienkriegern zurück, blieben am Rand der Piazza stehen und beobachteten mit glühenden Augen ihre
Weitere Kostenlose Bücher