Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
mit der sie vorhin Feuer gespuckt hatten. Sicher, er hatte gehört, dass Arcimboldos Lehrjungen vor zwei Tagen die Zauberspiegelwerkstatt verlassen hatten, um sich den Widerstandskämpfern gegen das Imperium anzuschließen. Aber er war erstaunt, wie schnell sie gelernt hatten, mit den Flammen umzugehen. Andererseits war es möglich, dass sie das schon früher gekonnt hatten. Er wusste viel zu wenig über sie.
»Ich dachte, du würdest schneller fliehen«, sagte Dario. »Diebe sind keine Kämpfer, oder?«
»Auch keine Feiglinge.« Serafin zögerte. »Was wollt ihr von mir? Ihr seid mir doch nicht zufällig über den Weg gelaufen.«
»Wir haben dich gesucht«, sagte Boro. Dario dankte es ihm mit einem finsteren Seitenblick. Davon aber ließ sich der stämmige Junge nicht beeindrucken, ganz im Gegensatz zu früher. »Jemand will dich sehen.«
Serafin hob eine Augenbraue. »So?«
»Wir sind jetzt keine Spiegelmacher mehr«, sagte Dario, bevor ihm erneut einer der anderen zuvorkommen konnte.
»Ja, davon habe ich bereits gehört.«
»Wir haben uns den Rebellen angeschlossen.«
»Klingt toll.«
»Mach dich nur lustig.«
»Eure Vorstellung war ziemlich eindrucksvoll. Ihr habt sechs von diesen… Viechern einfach weggeputzt.«
»Und den Gesandten«, sagte Dario.
»Und den Gesandten«, wiederholte Serafin. »Ich wäre nicht allein mit ihnen fertig geworden. Was wohl bedeutet, dass ich kein besonders guter Rebell wäre, oder?«
Sie alle wussten es besser, denn obgleich Serafin kein geschickter Säbelkämpfer war wie Dario, besaß er als ehemaliger Meisterdieb doch eine ganze Reihe anderer Talente.
»Unser Anführer will mit dir sprechen«, sagte Dario.
»Und ich dachte schon, das wärest du.«
Darios Blick wurde so finster wie die leeren Augenhöhlen eines Mumienkriegers. »Wir müssen keine Freunde werden, niemand verlangt das. Du sollst nur zuhören. Und ich denke, dass du uns das schuldig bist, oder?«
»Ja«, sagte Serafin. »Ich schätze, das bin ich.«
»Gut, dann komm einfach mit.«
»Wohin?«
Die drei wechselten einen Blick, dann senkte Dario verschwörerisch die Stimme. »Zur Enklave«, flüsterte er.
Liliths Kinder
Merle entdeckte die Statuen schon von weitem, und sie waren größer als alles, was sie in ihrem Leben gesehen hatte. Sehr viel größer.
Zehn Figuren aus Stein - jede mindestens hundertzwanzig Meter hoch, aber das war eine grobe Schätzung, und in Wahrheit mochten sie noch um einiges höher sein - standen rund um ein gigantisches Loch in der Landschaft. Das war es tatsächlich: ein Loch. Kein Krater, kein tiefes Tal. Je näher sie der Öffnung kamen, desto deutlicher wurde, dass es keinen Boden besaß, so als hätte ein göttlicher Faustschlag einfach ein Stück aus der Erdkruste gehämmert wie einen Splitter aus einer Glaskugel. Das Loch hatte eine unregelmäßige Form und musste größer sein als Venedigs Hauptinsel.
Als Vermithrax näher darauf zuflog, verschwammen die Ränder mit dem Dunst, der wie hauchfeiner Regen über das Land trieb. Bald sah Merle nur noch die mächtige Kante vor sich, so als hätte der Löwe sie bis ans Ende der Welt getragen. Die gegenüberliegende Seite des Abgrunds war nicht mehr zu erkennen. Merle wurde von einem Gefühl großer Leere und Verlorenheit ergriffen, trotz der Königin in ihrem Inneren, trotz Vermithrax.
Schon seit Stunden hatte sie einen seltsamen Geruch bemerkt - nicht nach Schwefel, wie damals, als der Höllenbote auf der Piazza San Marco erschienen war, sondern süßlicher, kaum weniger unangenehm, so als verwese etwas im Inneren der Erde. Vielleicht das Herz der Welt, dachte sie bitter. Vielleicht starb die ganze Welt einfach von innen heraus ab, wie eine Frucht am Baum, in der sich Fäulnis und Parasiten breit gemacht hatten. Die Parasiten waren die Ägypter. Oder aber, korrigierte sie sich, vielleicht sogar sie alle, denen nichts Besseres eingefallen war, als sich in einen Krieg von mythischen Dimensionen zu stürzen.
Aber nein, nicht sie hatte diesen Krieg begonnen. Und auch nicht Milliarden anderer Menschen. In diesem Augenblick kam ihr erstmals in aller Tragweite zu Bewusstsein, welche Verantwortung sie übernommen hatte: Sie suchte nach Hilfe im Kampf gegen die Ägypter, nach Hilfe für eine ganze Welt.
Im Kampf gegen die Ägypter. Da war es wieder. Und sie steckte mittendrin. Sie war nicht besser als all die anderen in diesem Krieg.
»Red dir keinen solchen Unsinn ein«, sagte die Königin.
»Aber es ist die
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