Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
blickte sich um, sah nur Dario, der mit den Achseln zuckte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Unke streifte seine Hände ab und mühte sich vorwärts, den Oberkörper vorgebeugt, schleppte sich weiter durch den Säurenebel, der sich in Serafins Lunge brannte wie flüssiges Feuer.
»Er muss… hier irgendwo… sein.«
Serafin und Dario wechselten erneut einen Blick, dann schwärmten sie aus und durchsuchten das Innere der Werkstatt.
Wenig später waren sie sicher, dass weder Talamar und Junipa noch Arcimboldo hier waren. Stattdessen stießen sie auf eine Öffnung im Boden, mit angekohlten Rändern, ausgezackt wie ein Stern, den ein Kind mit ungeschickten Fingern auf den Boden gemalt hatte.
Im ersten Augenblick glaubte Serafin, das Loch führe direkt in die Hölle.
Aber nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er am Grund der Öffnung den Boden des unteren Stockwerks. Er war drauf und dran hinterherzuspringen, aber Unke hielt ihn am Arm zurück.
»Lass«, sagte sie. »Er ist fort.«
»Und Junipa?«
»Er hat sie mitgenommen.«
»Wir müssen ihn aufhalten!«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist schnell. Mittlerweile kann er überall sein.«
»Aber…« Serafin verstummte. Was immer er hatte sagen wollen, war auf einen Schlag wie weggewischt. Sie hatten versagt. Talamar würde Junipa zu Lord Licht
bringen. Das Mädchen war verloren.
»Meister!« Darios Stimme klang gedämpft durch den Dunst, wahrscheinlich aus einem Nebenzimmer, doch auch auf die Entfernung verlor die Verzweiflung in seinem Ruf nichts an Intensität.
Serafin lief los, aber Unke war noch schneller. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf, Blut lief hinab bis zu ihren Mundwinkeln, kurz vor ihren Ohren. Ihr breites Meerjungfrauenmaul stand einen Spaltbreit offen, und Serafin sah die Reihen spitzer Zähne darin aufblitzen.
Er folgte ihr durch den Nebel, durch eine offene Tür.
In dem Lagerraum hatte Arcimboldo seine Zauberspiegel aufbewahrt. Die meisten waren fort, er hatte sie mit der letzten Lieferung an Talamar übergeben. Nur ein paar vereinzelte hingen noch in ihren Aufhängungen oder lehnten an den Wänden, Auftragsarbeiten für seine wenigen venezianischen Kunden.
Der alte Mann lag auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Sein linker Arm war eng am Körper ausgestreckt, unnatürlich verdreht, so als wäre er hinter seinem Rücken gebrochen oder ausgekugelt worden. Seine Rechte umklammerte einen Hammer. Ganz in der Nähe lagen die Überreste eines Spiegels, gezackte Scherben, die er offenbar selbst aus dem Rahmen geschlagen hatte.
Ein Gedanke durchfuhr Serafin, noch vor dem Entsetzen, vor der Trauer: War Talamar durch einen der Zauberspiegel in die Werkstatt gelangt? Und hatte Arcimboldo den Zugang mit dem Hammer zerstört?
Dario kauerte neben seinem Meister, wagte aber nicht, ihn zu berühren, aus Respekt oder Furcht vor der Wahrheit.
Unke stieß den Jungen beiseite und rollte Arcimboldo auf den Rücken. Dann blickten sie alle in seine gebrochenen Augen, halb verdeckt von Strähnen des wirren weißen Haars, das um seinen Schädel lag wie nass gewordenes Nähgarn.
Mit einer sanften Handbewegung schloss Unke die Augen des alten Mannes. Ihre Finger zitterten. Sie hob Arcimboldos Oberkörper, presste ihn fest an sich und legte seinen Hinterkopf vorsichtig in ihren Schoß. Mit bebenden Händen schob sie das Haar zurück, strich über seine Wangen.
Dario blickte zum ersten Mal auf. Blickte in Unkes Gesicht.
Er stieß ein Keuchen aus, und für ein, zwei Herzschläge sah es aus, als wollte er vor ihr zurückweichen. Dann aber hatte er sich wieder unter Kontrolle, schaute einmal kurz auf Unkes Beine - kein Fischschwanz, Serafin konnte seine Gedanken lesen -, dann nahm Dario die Hand seines ehemaligen Lehrmeisters und drückte sie fest.
Serafin fühlte sich fehl am Platz. Er hatte den Zauberspiegelmacher nicht gut gekannt, aber er hatte ihn gemocht. Er hätte dem Toten gerne seinen Respekt gezollt, doch er fürchtete, dass jede Geste schal und falsch gewirkt hätte. Die beiden hatten Arcimboldo so viel zu verdanken, ihre Trauer musste unendlich viel tiefer sein. Er verbeugte sich nur knapp, drehte sich um und ging zurück in die Werkstatt.
Er musste nicht lange warten, ehe Dario sich zu ihm gesellte.
»Unke will allein mit ihm sein.«
Serafin nickte. »Ja, natürlich.«
»Sie sagt, wir sollen auf sie warten.«
Dario hockte sich auf die Tischkante. Sein Blick war nach innen gerichtet. Es erstaunte
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