Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Serafin, dass Dario es trotz allem nicht eiliger hatte, zurück zur Enklave zu kommen; der Angriff auf den Pharao sollte heute noch vonstatten gehen, und es lag nicht in Darios Macht, diesen Plan zu ändern.
»Was wird sie tun?«, fragte Serafin.
»Ich denke, sie will mit uns gehen.«
»Zur Enklave?«
Dario nickte.
Vielleicht war das keine schlechte Idee. Unke war alt, über hundert, schätzte er, vielleicht noch älter, aber ihr Äußeres war das einer Frau in den Dreißigern. Sie war schlank und gewandt, und es hätte ihn nicht verwundert, wenn sie es verstanden hätte, mit einer Klinge umzugehen.
»Du hast es nicht gewusst, oder?«, fragte Serafin.
»Dass sie eine Meerjungfrau ist?« Dario schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben uns natürlich gewundert, warum sie immer diese Maske getragen hat. Sie hat nie irgendjemandem erlaubt, ihr ganzes Gesicht zu sehen, immer nur von der Nase an aufwärts. Eine Krankheit, dachten wir, oder ein Unfall.« Er hob die Schultern. »Wer weiß, vielleicht haben wir es ja auch ein ganz klein wenig geahnt. Tiziano hat mal einen Witz darüber gemacht, was wäre wenn… Aber nein, ich hab’s nicht gewusst. Nicht wirklich.«
Sie verließen die Werkstatt und setzten sich draußen im Korridor auf den Fußboden, die Rücken gegen die Wand gelehnt, Serafin auf der einen Seite des Gangs, Dario auf der anderen. Beide hatten die Knie angezogen und sahen sich über den Flur hinweg an. Vor Darios Füßen lag sein Säbel.
Die Stille wurde durchbrochen vom Klicken des Türschlosses, als Unke die Werkstatt von innen absperrte.
Das Letzte, was Serafin durch den Türspalt sah, war Arcimboldos Leichnam, den Unke auf einer Werkbank aufgebahrt hatte, halb verborgen hinter den wogenden Nebelbänken.
»Was tut sie?«
Dario schaute zur Tür hinüber, als könnte er durch das Holz der beiden Flügel blicken. »Keine Ahnung. Wir müssen abwarten.«
Serafin stimmte mit einem Nicken zu.
Und so warteten sie.
Eine Stunde. Womöglich auch zwei oder drei.
Sie sprachen nicht viel, doch wenn sie redeten, war da nichts mehr von der alten Feindschaft zwischen ihnen, nur Respekt und etwas, das vielleicht einmal Freundschaft werden konnte.
Aber sie hatten einen hohen Preis dafür gezahlt. Arcimboldo tot, Junipa verschleppt.
Einen viel zu hohen Preis.
Die Vorstellung, nach alldem noch in den Dogenpalast einzudringen und ein Attentat auf den Pharao zu verüben, war mit einem Mal so unwirklich, so ganz und gar aberwitzig, dass Serafin sie rasch verdrängte.
Der ätzende Dunst hatte sich längst verzogen, als das Türschloss ein zweites Mal rumorte. Doch nun trat ein anderer Geruch an seine Stelle.
Es brannte. Feuer in der Werkstatt!
Serafin und Dario erwachten aus ihrer Starre und sprangen auf. Unke trat ihnen entgegen. In ihrer Hand blitzte etwas. Serafin glaubte erst, es wäre eine Klinge, doch dann erkannte er eine Maske aus silbernem Spiegelglas. Unke presste sie an sich wie etwas unsagbar Kostbares, mehr als nur ein Andenken, das sie zur Erinnerung an sich genommen hatte.
Hinter ihr brannte die Werkbank.
Eine Säule aus schwarzem, fettigem Rauch wogte empor, fing sich unter der Decke und kroch daran entlang auf die Tür zu wie die vorderste Front eines Ameisenschwarms.
»Gehen wir«, sagte Unke.
Die beiden Jungen wechselten einen unsicheren Blick, dann sah Serafin wieder ins Innere der Werkstatt. Die Flammen, die über Arcimboldos aufgebahrten Körper tanzten, verbargen zugleich die Zerstörung, die sie anrichteten. Etwas an dem Profil des Toten erschien ihm sonderbar, als wäre das Gesicht des Alten jetzt glatt wie eine Kugel.
Sein Blick wanderte wieder zu der silbernen Maske in Unkes Hand. Die Züge waren schmal und hager. Das Gesicht eines alten Mannes.
»Gehen wir«, sagte die Meerjungfrau noch einmal und zog mit der freien Hand den Rand eines Halstuches über ihre Mundpartie, bis sie aussah wie ein Verbrecher, der sich für seinen letzten, großen Raubzug wappnet.
Dario nickte, und Serafin schloss sich den beiden an, als sie mit schnellen Schritten den Korridor hinabeilten. Noch einmal blickte er über die Schulter zurück, aber jetzt sah er nur noch Rauch und Feuer, die in dichten Schwaden hinaus auf den Gang waberten.
Augenblicke später rannten die drei am Kanal der Ausgestoßenen entlang, fort von Arcimboldos Scheiterhaufen.
Aus mehreren Fenstern schlugen jetzt Flammen, und eine Qualmwand legte sich über das Wasser.
Der Pharao
Hinter den goldenen Kuppeln der Markuskirche
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