Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
erhob sich ein Falke, größer als jedes Tier auf Erden, höher als der höchste Turm, mächtiger als die Statuen des Pharaos daheim in Ägypten.
Er richtete sich zu seiner vollen Größe von über hundert Mannslängen auf, mit schwarzen, runden Augen und einem Schnabel so groß wie der Rumpf eines Bootes. Sein Gefieder war aus purem Gold und zeichnete sich auf dem Nachthimmel ab, als stünde es in Flammen.
Horus, der Falkengott.
Er entfaltete seine Schwingen wie goldene Segel und legte sie von beiden Seiten um die Fassaden der Basilika, um ihre reichen byzantinischen Verzierungen und Ornamente, um ihre Giebel und Fenster und Reliefs. Die Spitzen der Schwingen trafen sich vor dem Portal, schoben sich übereinander, bis die ganze Kathedrale in seiner Umarmung gefangen war, verborgen wie hinter einem Vorhang aus glühender, funkelnder Lava.
Der Falkengott beanspruchte, was sein war.
Er zeigte jedem, wer jetzt die Macht in Venedig innehatte, dass dies nun ein Teil von Ägypten war, ein Teil des Imperiums, ein Lehen der alten Götter.
Auf einem gegenüberliegenden Dach stand Seth, Höchster der Horuspriester und Wesir des Pharaos. Er hatte das Gesicht leicht gesenkt und die Arme um seinen Oberkörper verschränkt. Schweiß stand in glänzenden Perlen auf seiner Stirn, und seine goldene Robe war durchtränkt davon. In diesem Augenblick war er der Falke, der uneingeschränkte Meister dieser Illusion.
Seth hielt den Zauber noch eine Minute länger aufrecht, dann riss er die Arme mit einer schnellen Bewegung auseinander und stieß scharf die Luft durch Mund und Nase aus.
Der turmhohe Falke zerstob in einer Fontäne aus funkelndem Flitter, der sich rund um die Basilika auf die Piazza San Marco senkte, als stürzten die Sterne selbst vom Himmel.
Applaus ertönte aus den Reihen der Priesterschaft, die sich unten auf dem Platz versammelt hatte. Nur die Mumienkrieger, mehrere Dutzend, die überall auf der Piazza verteilt standen, starrten unbeteiligt vor sich hin, aus toten, eingefallenen Augen, manche auch aus leeren Höhlen.
Aber Seth brauchte keinen Jubel, keinen Applaus, um das Ausmaß seines Könnens zu erkennen. Er war sich seiner Macht bewusst, jedes noch so kleinen Aspekts seiner göttlichen Talente. Der goldene Falkengott war nichts als geschickte Gaukelei, eines jener Symbole für den Sieg des Imperiums, wie sie den Pharao ein ums andere Mal in naive Verzückung versetzten. Das Spielzeug eines Kindes.
Was für eine Verschwendung!, dachte Seth abfällig. An Kraft, an Respekt und an Glaubwürdigkeit. Er selbst, Höchster Priester und zweiter Mann des Imperiums, er selbst, der ehrwürdige Seth, verschwendete seine Energien an Amenophis’ lächerliche Wunschträume. Und jeder innerhalb der Priesterschaft, sogar seine engsten Vertrauten, wussten, dass ihm keine andere Wahl blieb. Nicht in Zeiten wie diesen, in denen die SphinxKommandanten immer mehr Einfluss und Macht gewannen und die Priesterschaft aus der Gunst des Herrschers drängten. Es galt, den Pharao glücklich zu machen - lange genug, bis die Macht der Horuspriester nicht mehr durch die verfluchten Sphinxe bedroht wurde.
Seth schnaubte bei diesen Gedanken. Das Imperium feierte einen seiner größten Siege, die Eroberung Venedigs nach über drei Jahrzehnten der Belagerung, und es war in erster Linie Seths Sieg, sein persönlicher Triumph über die Fließende Königin - und doch konnte er sich nicht daran erfreuen. Seine Zufriedenheit war nur äußerlich, nichts als Maskerade.
Die Schuld daran trugen die Sphinxe. Und natürlich der Pharao selbst.
Amenophis war ein Narr - ein alberner, selbstverliebter Geck auf einem Thron aus Gold und Menschenleben. Die Horuspriester hatten ihn auserwählt und zur Galionsfigur des Imperiums gemacht, weil sie ihn für schwach gehalten hatten, für formbar und leicht zu beeinflussen. Nur ein Kind, hatten sie sich gesagt, und sie hatten frohlockt, als es ihnen gelungen war, ihn in der Stufenpyramide von Amun-Ka-Re zu neuem Leben zu erwecken.
Er war ihr Werk, ihre Puppe, hatten sie geglaubt. Und in gewisser Weise entsprach das auch noch heute der Wahrheit.
Aber eben nur in gewisser Weise.
Seth ließ sich wortlos einen langen Umhang um die Schultern legen und nahm ein Tuch entgegen, das ihm einer seiner untergebenen Priester reichte. Er tupfte sich damit Schweiß von seinem kahlen Schädel, aus den Zwischenräumen des goldenen Netzes, das man in seine Kopfhaut eingelassen hatte, als Schmuck, aber auch als Mittel, um seine
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