Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
geistige Macht zu bündeln. Bei den übrigen Priestern hatte man das Netz mit Farbe in die Haut tätowiert, doch sein eigenes war aus echtem Gold, gewirkt in den Schmieden von Punt, tief im Süden Afrikas.
Seth trat mit gemessenen Schritten ins Treppenhaus, gefolgt von seinen Priestern. Man hatte zahlreiche Mumienkrieger zu seinem Schutz abgestellt. Auffallend viele. Seth fragte sich, wer den Befehl dazu gegeben hatte. Er selbst jedenfalls nicht.
Als er unten auf die Piazza trat, kam ein Priesteradept auf ihn zu, verbeugte sich dreimal, küsste seine Hände und Füße und bat um Erlaubnis, ihm eine Nachricht des Pharaos zu übermitteln: Amenophis wünsche Seth zu sehen, jetzt gleich, in seinen neuen Gemächern im Dogenpalast.
Innerlich kochte Seth vor Wut, als er den Adepten und seine Untergebenen stehen ließ, die Piazza überquerte und den Palast betrat. Amenophis zitierte ihn herbei wie einen seiner Leibsklaven. Ihn, den Höchsten unter den Priestern des Horus, das geistige Oberhaupt des Imperiums. Und das vor der versammelten Priesterschaft. Durch den Mund eines niederen Adepten!
Seth betrat den Palast durch die reich verzierte Porta della Carta, ein Meisterwerk der Gotik. Auf der anderen Seite des großen Innenhofs stieg er im Schatten zweier gewaltiger Götterstatuen eine prachtvolle Treppe empor. Mars und Neptun blickten kalt auf ihn herab. Seth würde sie schnellstmöglich niederreißen und durch Horus und Re ersetzen lassen.
Über breite Korridore und mehrere Durchgangssäle erreichte er schließlich die Tür, hinter der man einige Hallen als persönliches Domizil des Pharaos hergerichtet hatte. Die Räume lagen, dem Status eines Herrschers angemessen, im oberen Stockwerk des Palastes, gleich unter den Speichern. Dort oben, unter den Bleidächern, hatte man früher Gefangene in winzige Kerker eingesperrt. Heute aber, so viel wusste Seth, standen die gefürchteten Bleikammern leer. Er würde sie später besichtigen und entscheiden, ob dies womöglich ein passender Ort war, um die Aufrührer unter den Ratsherren festzusetzen.
Nicht alle Stadträte hatten sich an der Auslieferung der Fließenden Königin beteiligt. Die drei Rädelsführer, darunter Rat de Angeliis, hatte Amenophis am Abend hinrichten lassen, öffentlich auf der Piazza San Marco. Er war ihnen dankbar für ihre Hilfe, duldete aber keine Männer um sich, deren Wort man kein Vertrauen schenken konnte. Die übrigen Ratsherren wurden seither irgendwo im Palast festgehalten, getrennt von ihren Leibgarden. Die meisten Soldaten hatte man ebenfalls eingesperrt. Später sollte ein Versuch unternommen werden, sie auf die Seite des Imperiums zu ziehen; Amenophis faszinierte die machtvolle Bindung der Soldaten zu ihren steinernen Löwen. Vor allem die geflügelten Steinlöwen, über die allein die Leibgarde der Stadträte verfügte, hatten das Interesse des Pharaos geweckt.
Seth dagegen war der Ansicht, dass es besser wäre, alle Löwen zu töten, ganz gleich, wie schwierig solch ein Unterfangen sein mochte - selbst wenn es nötig wäre, für jeden Löwen ein paar Dutzend Mumienkrieger zu opfern. Es war ein Fehler, sie am Leben zu lassen. Amenophis mochte in den Löwen nur Tiere sehen, die es zu bändigen und für die eigenen Zwecke zu nutzen galt; Seth aber war anderer Meinung. Die Löwen waren keine dummen Kreaturen, die sich beliebig dressieren ließen. Er konnte das Göttliche in ihnen spüren, ihre Intelligenz, ihr uraltes Wissen. Und er fragte sich, ob nicht auch hinter dieser Entscheidung des Pharaos in Wahrheit die SphinxKommandanten standen. Sie waren selbst halbe Löwen, und es lag auf der Hand, dass sie mehr über die venezianischen Steinlöwen wussten, als sie vorgaben.
Bestand gar eine Verwandtschaft zwischen den Sphinxen und den Löwen aus Stein? Und, falls ja, welche Bedeutung hatte sie im Ränkespiel der Kommandanten?
Seth blieb keine Zeit, den Gedanken länger zu verfolgen. Ein Lakai des Pharaos hatte sein Kommen bereits gemeldet. Jetzt forderte er ihn auf einzutreten.
Der Pharao ruhte auf einem Diwan aus Jaguarfellen. Er trug ein weites Gewand aus Menschenhaar, durchwirkt mit Goldfäden. Einhundert Sklavinnen hatten fast ein Jahrzehnt daran gearbeitet. Amenophis besaß mehrere Dutzend dieser Gewänder, und oft zerriss er ein gerade fertig gestelltes, wenn ihm der Schwung einer Linie oder ein Detail des Musters nicht gefiel.
Der Pharao lächelte, als Seth auf ihn zukam. Amenophis erwartete ihn allein, und das war mehr als
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