Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
links von sich wahrnahm, flinke Formen, die über die Wände geisterten. Aber es war nur er selbst, der durch eine Unzahl von Spiegelrahmen huschte, überall an den Wänden.
Dario lief direkt hinter ihm, als ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte. Dario beschleunigte sein Tempo, zog jetzt fast an Serafin vorbei.
Wer hatte geschrien? Mann, Frau oder Mädchen? Vielleicht auch etwas ganz anderes, nicht gequält, sondern in schrillem, loderndem Triumph.
Ein Flüstern geisterte durch die Gänge, aus allen Richtungen zugleich: »Dem Wunsch ist entsprochen, der Zauber gewirkt, der Pakt erfüllt.«
Die Jungen bogen um eine Ecke, geradewegs in den Korridor, der auf das hohe Doppeltor der Werkstatt zuführte. Arcimboldos Arbeitshalle ähnelte von jeher eher dem Laboratorium eines Alchimisten als den Räumen eines Handwerkers. Seine Zauberspiegel entstanden aus Silberglas, Magie und der Essenz der Fließenden Königin.
Doch die ätzenden Dämpfe, die ihnen jetzt entgegentrieben, hatten nichts mit alchimistischen Substanzen oder Zauberei zu tun. Sie waren der Odem der Verdammnis, die schwarze Pestilenz Talamars. Serafin wusste es, fühlte es mit jedem Nerv, mit jeder Faser. Seine Sinne schlugen Alarm. Sein Verstand schrie ihn an umzukehren.
Aber er lief weiter, riss den Säbel hoch, öffnete den Mund zu einem Schrei des Zorns und der Hilflosigkeit - und flog durch die offene Tür ins Laboratorium, stieß durch Wolkenbänke aus scharfem Rauch und Säuredunst, stolperte, kam zum Stehen, konnte kaum atmen. Und sah.
Unke lag reglos in einer Ecke, vielleicht tot, vielleicht nur ohne Bewusstsein. Im fahlen Nebel, der den Raum erfüllte, war nicht zu erkennen, ob sie atmete. Sie trug keine Maske, hatte das Gesicht aber abgewandt. Serafin war nicht sicher, ob Dario die einstige Meerjungfrau je unmaskiert gesehen hatte; falls nicht, war es besser, dass sie jetzt nicht zu ihnen herüberschaute. Ihr Haifischmaul, das letzte Merkmal ihrer ozeanischen Abstammung, hätte ihm womöglich einen Schock versetzt.
Etwas bewegte sich im Nebel wie eine große Spinne mit vier Beinen. Verkantete Gelenke, als hätte jemand eine Fadenpuppe falsch zusammengesetzt. Ein Körper, dessen Bauch nach oben wies, und eine Fratze, die auf dem Kopf stand, das spitze Kinn oben, die tückischen Augen unten. Wie ein Mensch, der eine Brücke bildet; und dennoch weit entfernt von jeder Menschlichkeit.
Mit einer Hand zerrte der Höllenbote etwas hinter sich her, ein regloses Bündel. Einen Körper.
Junipa.
Serafin zögerte nur einen Augenblick, vergewisserte sich, dass Dario dasselbe sah wie er, dann hechtete er durch den ätzenden Dunst auf Talamar zu, so schnell, dass selbst die Reflexe des Höllenboten kaum noch reagieren konnten. Statt auszuweichen, ließ die Kreatur Junipa los, hob einen Arm - in einer verdrehten Bewegung, die nichts mit etwas Irdischem gemein hatte - und wehrte den Säbelhieb ab, mit bloßer Haut, hart wie Stein, stumpf wie der Hornpanzer eines Insekts. Die Klinge prallte ab, mit einem widerlich dumpfen Laut, und beinahe hätte sein eigener Schwung Serafin zu Boden gerissen. Er fing sich im letzten Moment, wurde zwei Schritte nach hinten getrieben, stand dann aber breitbeinig und bereit für den nächsten Schlagabtausch.
Ein schrilles Lachen drang aus dem verdrehten Maul des Wesens, seine Augen suchten, sondierten, entdeckten den zweiten Gegner.
Dario hatte aus Serafins Fehler gelernt. Statt Talamar auf geradem Weg anzugreifen, machte er einen Schritt auf die Bestie zu, wirbelte herum, sprang nach rechts, dann nach links und setzte schließlich in einem akrobatischen Sprung über seinen Gegner hinweg, drehte sich in der Luft und stieß den Säbel mit beiden Händen von oben in den Leib des Höllenboten.
Talamar stöhnte, als die Spitze seine Haut ritzte. Er schüttelte sich wie bei einem Insektenstich, spie eine Reihe abgehackter Laute aus, dann wischte er die Klinge einfach beiseite. Die Spitze war kaum einen Fingerbreit eingedrungen, zu wenig, um ihn zu schwächen oder gar ernsthaft zu verletzen. Dario riss den Säbel zurück, bevor Talamar die Klinge packen konnte, kam mit beiden Beinen auf, schwankte kurz, fand dann sein Gleichgewicht und rief Serafin etwas zu, das im zornigen Brüllen der Kreatur unterging.
Aber Serafin verstand auch so.
Dario stand jetzt auf der rechten Seite Talamars, während Serafin sich noch immer auf der linken befand. Sie konnten den Höllenboten in die Zange nehmen, wenn sie sich geschickt anstellten.
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