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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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spürte, wie sich etwas um sie krallte, Glieder wie trockene Äste, die sich gegen ihre Beine, ihren Oberkörper, sogar an ihr Gesicht pressten; es fühlte sich an, als wäre sie im Dunkeln gegen tief hängende Zweige gelaufen. Mit dem Rücken wurde sie gegen etwas Weiches, Kühles gepresst, einen Körper, haarig und feucht wie ein aufgeschnittener Pfirsich.
    Der Aufprall war schlimm.
    Viel schlimmer aber war, als sie begriff, was sie gerettet hatte.
    Der Lilim hatte sich um sie herum zu einem schützenden Ball zusammengezogen, wie es Spinnen kurz vor dem Sterben tun. Er hatte sich in der Luft gedreht und war mit dem Rücken zuerst aufgekommen. Merle konnte durch das Gitterwerk seiner Gliedmaßen die Hallendecke sehen, ein Inferno aus stürzenden Leibern, in dem sie nirgends eine Spur des Obsidianlöwen entdeckte. Aber ihr Blick war ohnehin verschwommen, ihr Geist kaum in der Lage, die Bilder zu verarbeiten.
    Sie war über hundert Meter in die Tiefe gestürzt, und sie hatte überlebt. Der Schock saß tief, wenn auch nicht tief genug, um sie völlig zu lähmen. Ihr Verstand klärte sich mit jedem Atemzug, formte aus dem Wirrwarr in ihrem Kopf den Ansatz klarer Gedanken.
    Das Erste, was ihr in den Sinn kam, war der Zweifel, ob sie tatsächlich dankbar sein sollte, dass sie noch lebte. Sie spürte die feuchte, klebrige Unterseite des Lilim in ihrem Rücken, fühlte, dass borstige Haare durch ihre Kleidung stachen wie stumpfe Nägel. Sie sah die haarigen, klapperdürren Glieder über sich, zusammengekrampft, reglos.
    »Er ist tot«, sagte die Fließende Königin.
    Merle brauchte einen Moment, ehe sie die Bedeutung der Worte erfasste.
    »Wäre er wie die anderen auf den Füßen gelandet, hätte er überlebt. Aber er ist auf den Rücken gestürzt, um dich zu schützen.«
    »Mich zu… schützen?«
    »Egal, warum er es getan hat - du solltest jedenfalls versuchen, dich aus seiner Umklammerung zu befreien, bevor die Leichenstarre eintritt.«
    Merle drückte mit aller Kraft gegen die verschränkten Gliedmaßen. Sie knirschten und knackten, ließen sich aber schließlich bewegen. Merle hatte nicht nur mit ihrem Ekel zu kämpfen, sondern auch mit dem Zittern ihrer Arme und Beine. Ihr Kopf mochte begriffen haben, dass sie noch am Leben war, aber der Rest ihres Körpers schien erst mit einiger Verspätung damit fertig zu werden. Ihre Muskeln bebten und zuckten unter der Haut wie Fische in einem Fangkorb.
    »Beeil dich!«
    »Du hast gut reden.« Immerhin, ihre Stimme war wieder die alte. Vielleicht ein wenig schrill, vielleicht ein wenig atemlos. Aber sie konnte sprechen.
    Und fluchen. Lautstark.
    »Das war nicht von schlechten Eltern«, sagte die Fließende Königin beeindruckt, nachdem der Schwall von Schimpfworten aus Merles Mund versiegt war.
    »Jahrelange Übung«, keuchte Merle und drückte das letzte Lilimbein beiseite. Sie gab sich alle Mühe, nicht nach unten zu schauen, als sie beide Hände in die feuchtweiche Masse in ihrem Rücken setzte und sich hochstemmte. Irgendwie gelang es ihr, sich aus der Umarmung des Kadavers zu befreien und zwischen zwei Astgliedern zu Boden zu springen.
    Ihre Füße gaben nach, und sie stürzte. Diesmal nicht vor Erschöpfung.
    Um sie herum standen hunderte von Lilim und starrten sie an, wippten auf ihren langen Beinen und wetzten ihre Hakenkrallen am Boden. Sie hatten ihren toten Artgenossen und Merle eingekreist, aber sie kamen nicht näher, so als hielte etwas sie zurück. Vielleicht derselbe Befehl, der den Lilim veranlasst hatte, sich für Merle zu opfern.
    Die Königin nahm das Fazit dieser Erkenntnis vorweg: »Sie tun dir nichts. Irgendwer hat noch etwas mit dir vor.«
    Mit uns, wollte Merle sagen, aber jetzt versagte ihre Stimme endgültig. Sie wandte ihren Blick nach oben und erkannte, dass keine weiteren Lilim zu Boden fielen. Die Hallendecke war noch immer in Bewegung, doch allmählich verebbte das Gewimmel, und die Kreaturen verschmolzen wieder mit dem Fels, wurden unsichtbar.
    Vermithrax, dachte sie.
    »Er lebt.«
    Merle schaute sich in der Halle um, aber ihre Sicht reichte nicht weiter als bis zur zweiten, dritten Reihe der Lilimarmee. »Sicher?«
    »Ich spüre ihn.«
    »Das sagst du nur, um mich zu beruhigen.«
    »Nein. Vermithrax ist am Leben. Genau wie Winter.«
    »Wo sind sie?«
    »Irgendwo hier. In der Halle.«
    »Die Lilim haben sie?«
    »Das befürchte ich.«
    Die Vorstellung, dass der Obsidianlöwe von den Lilim zur Landung gezwungen oder gar zum Absturz gebracht worden

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