Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
stieß er sich mit ausgestreckten Armen vom Boden ab und federte auf Lalapeja zu.
Ihr Mädchengesicht verzerrte sich. Sie riss die Augen weit auf. Sogar in ihren Pupillen loderte überirdischer Glanz.
Serafin brach durch den Kranz aus Helligkeit, bekam ihren Oberkörper zu fassen und riss sie von ihren Löwenbeinen. In einem Pulk aus Armen, Beinen und Raubtierklauen prallten sie auf den Boden, überschlugen sich, stürzten plötzlich ins Leere und klatschten ins Wasser. Eine messerscharfe Kralle streifte Serafins Wange, eine andere zerfetzte seine Kleidung und vielleicht auch die Haut darunter, ja, er blutete, da war Blut im Wasser, und dann sah er Lalapejas Gesicht, hörte, wie sie einen gellenden Schrei ausstieß, jetzt nur noch eine junge Frau mit nassem, strähnigem Haar, keine überirdische Erscheinung mehr, und auch das Licht war verschwunden.
Er sah sie mit den Armen rudern und kämpfte gegen den Drang an, sie einfach unter Wasser zu drücken, bis es vorbei war, ihr alles heimzuzahlen, den Verrat, den Tod Boros, die Art und Weise, wie sie ihn ausgenutzt hatte.
Aber er tat es nicht. Stattdessen erkannte er plötzlich, dass sie nicht schwimmen konnte und untergehen würde, wenn er ihr nicht half. Es war verlockend, sie sich selbst zu überlassen, aber mit einem Mal suchte er vergeblich nach dem Hass in seinem Herzen, der ihn eben noch aus dem Schildkrötenpanzer und ans Ufer getrieben hatte. Sein Zorn war wie weggeblasen, und übrig blieb nichts als Leere.
»Serafin!«, schrie sie, die Stimme verzerrt vom Wasser, das über ihre Lippen drang. »Hilf… mir…«
Er konnte ihren Löwenleib unter der Oberfläche nicht mehr sehen und fürchtete, dass ihre Pranken ihn zerfetzten, wenn er ihr zu nahe käme. Doch selbst das war ihm jetzt gleichgültig. Er stieß sich ab, glitt heran und packte sie von hinten. Er spürte, wie sie unter Wasser strampelte und gegen ihn stieß, jetzt mit menschlichen Beinen. Sie konnte nicht schwimmen, weder als Mensch noch als Sphinx, aber der schwere Löwenkörper hätte sie schneller in die Tiefe gezogen als ihre leichte Mädchengestalt. Er legte einen Arm von hinten um ihre Brust und versuchte, sie beide irgendwie über Wasser zu halten, ahnte aber zugleich, dass es ihm nicht lange gelingen würde. In ihrer Panik wehrte sie sich und drohte ihn in die Tiefe zu ziehen.
Hände packten sie beide von unten und zogen sie aufs Wasser hinaus, dem Schildkrötenpanzer entgegen, der wie ein halbierter Totenschädel in der Finsternis trieb. Die Meerjungfrauen zeigten sich nicht, blieben unter der Oberfläche, aber es mussten mindestens zwei sein, vielleicht mehr. Serafin trieb auf dem Rücken, Lalapeja vor sich gepresst, immer noch in seinem Arm. Sie hatte aufgehört zu strampeln, bewegte sich jetzt überhaupt nicht mehr, und für einen Augenblick dachte er, sie wäre tot, ertrunken in seiner Umarmung - und war es nicht das, was er gewollt hatte, als er wie ein Berserker auf sie zugerannt war? Hatte er es nicht darauf angelegt, dass sie starb und damit einen Teil ihrer Blutschuld beglich?
Jetzt schienen ihm solche Gedanken absurd, und er atmete erleichtert auf, als sie sich regte und vergeblich versuchte, den Kopf zu wenden.
»Warum hast du das… getan?« Ihre Stimme war kläglich, sie hörte sich an, als weine sie. »Warum hast du mich… aufgehalten?«
Warum?
Ein Dutzend Antworten schossen ihm durch den Kopf. Zugleich aber war da mit einem Mal die Ahnung, dass er es war, der betrogen hatte - nicht andere, sondern sich selbst.
Während die Meerjungfrauen sie zum Horngehäuse der Meeresschildkröte schleppten, entdeckte er endlich, was Lalapeja schon vor ihm gesehen hatte. Und er erkannte, dass ihr Zauber nie ihnen, nie Unke und den Jungen gegolten hatte, sondern immer nur dem Sammler.
Das Gitterwerk aus erstarrten Lichtblitzen, das die Unterseite des Sammlers mit San Michele verband, war jetzt ein einziger zuckender Wirrwarr aus geraden und gekrümmten Strahlen, Haken und Kurven und Zacken und Schleifen. Aber sie hatten es nicht auf die toten Venezianer abgesehen, die zu zigtausenden auf der Friedhofsinsel bestattet waren.
Es war etwas anderes, das sie gesucht und gefunden hatten. Etwas ganz und gar anderes.
Die Meerjungfrauen schoben Serafin und Lalapeja aus dem Wasser; Unke, Dario und Tiziano zogen sie herauf. Die Panzerschale bekam Schlagseite und wäre wohl gekentert, hätten nicht die Meerjungfrauen im Wasser dagegengehalten. Nur Aristide hockte unverändert an seinem Platz
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