Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
hinzurichten.
Seth. Der zweite Mann des Imperiums. Burbridge hatte ihn hängen lassen wie einen Straßendieb. Sosehr sein Tod sie erleichterte, so sehr erschütterte er sie auch.
Immer, wenn der baumelnde Tote ihr das Gesicht zuwandte, streifte sie sein lebloser Blick. Derselbe Blick wie damals, als er sie von der Spitze des Sammlers aus angestarrt hatte. Ein Schauder strich wie eiskalte Fingerspitzen über ihren Rücken.
»Der Pharao hat ihn geschickt, um mich zu töten«, sagte Burbridge. Er klang teilnahmslos, fast ein wenig verwundert. »Man könnte fast meinen, Amenophis wollte ihn loswerden. Seth hatte hier unten nie eine Chance.«
»Wo haben Sie ihn gefangen?«
»Über der Stadt. Er ist weit gekommen. Aber nicht weit genug.«
»Über der Stadt?«, fragte sie.
Burbridge nickte. »Er ist geflogen. Natürlich nicht er selbst.« Er deutete nach oben. »Da, sieh nur!«
Merles Blick folgte seiner Hand. Sie entdeckte zwei Käfige, die an langen Ketten von einem Stahlträger hoch über dem Gitterkreis hingen. Der erste Käfig befand sich über der rechten Hälfte des Kreises, der andere über der linken. Es sah aus, als sollten sie jeden Moment an den Ketten herabgelassen werden - nur war da nichts, worauf man sie hätte abstellen können. Unter ihnen loderte nur die gewölbte Oberfläche des Steinernen Lichts.
In dem einen Käfig lief ein mächtiger Sphinx auf und ab, immer wieder vor und zurück, wie ein Raubtier, das zum ersten Mal die Freiheit des Dschungels vermisst. Gewaltige Schwingen lagen gefaltet auf seinem Rücken. Merle hatte nicht gewusst, dass es geflügelte Sphinxe überhaupt gab.
In dem anderen Käfig saß, sehr viel ruhiger, fast gelassen - »Vermithrax!«
Der Obsidianlöwe erwachte aus seiner Starre und bewegte sein Gesicht näher an die Gitterstäbe. Auf diese Entfernung konnte sie keine Einzelheiten erkennen, aber sie spürte die Traurigkeit in seinem Blick.
Der Sphinx sah, dass Vermithrax sich bewegte, und fauchte ihn über den gleißenden Abgrund hinweg an.
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte die Fließende Königin, aber nicht einmal sie konnte das Schwanken ihrer Stimme verhindern.
Wir haben ihn hergebracht, dachte Merle. Nach all den Jahren im Campanile war er endlich frei, und jetzt ist er wieder ein Gefangener.
»Du kannst nichts dafür.«
Die Königin wollte sie beruhigen, aber Merle ließ sich nicht darauf ein. Sie trugen beide die Schuld an Vermithrax’ Schicksal.
Mit bebenden Lippen drehte sie sich zu Burbridge um. Das Zucken ihrer Wangen verriet, dass sie nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Aber noch hatte sie sich unter Kontrolle. Sie wollte ihn anschreien, ihn beschimpfen. Doch dann nahm sie all ihre Vernunft zusammen und suchte nach den richtigen Worten.
»Warum sind Sie freundlich zu mir, sperren meinen Freund aber ein?«, fragte sie mühsam beherrscht.
»Wir brauchen ihn. Mehr noch als den Sphinx.«
Merles Blick fuhr hinauf zu dem Sphinx, der, halb Raubtier, halb Mensch, rasend vor Zorn in seinem Käfig tobte. Der stählerne Kasten baumelte hin und her, aber die starke Kette, an der er hing, war der Belastung gewachsen. Rasch wanderte Merles Aufmerksamkeit zurück zu Vermithrax. Sein langer Obsidianschweif hing zwischen den Gitterstäben des Käfigs herab und wedelte leicht.
Wir müssen ihn befreien, dachte sie.
»Ja.« Diesmal hatte die Fließende Königin keine Einwände. Allerdings auch keine Vorschläge.
»Ein Experiment«, sagte Burbridge, »auf das wir seit langer Zeit gewartet haben.«
»Was… was haben sie mit den beiden vor?«, fragte Merle.
»Wir werden sie in das Steinerne Licht tauchen.«
»Was?« Merle starrte ihn an.
»Ich habe gründlich nachgedacht, ob ich dir das hier zeigen soll, Merle. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, damit du verstehst. Damit du begreifst, was hier unten vor sich geht. Und warum diese Welt die bessere ist.«
Merle schüttelte stumm den Kopf. Sie verstand nichts. Überhaupt nichts. Warum ausgerechnet sie?
»Was passiert mit ihm?«, fragte sie.
»Wenn ich das wüsste, wäre es nicht nötig, es auszuprobieren«, erwiderte Burbridge. »Wir experimentieren nicht erst seit heute mit diesen Dingen, das kannst du dir vorstellen. Die ersten Versuche waren Fehlschläge.«
»Sie verbrennen lebende Wesen, nur um sie zu -«
»Spürst du es denn nicht?«, unterbrach er sie. »Das Steinerne Licht verströmt keine Hitze. Es kann niemanden verbrennen. Auch deinen Freund nicht.«
»Und warum wollen Sie Vermithrax dann
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